900-Jahr-Feier Sondershausen
ERINNERUNGEN AUS ALTER ZEIT
Anfang Januar 2025 kam von unserer Tochter Beate die Mitteilung, dass die alte
Residenzstadt derer von Schwarzburg-Sondershausen 2025 ihre 900-Jahr-Feier
habe, und die Schüler des Gymnasiums den Auftrag erhalten hätten, nach einem
Fragen-Katalog ihre Großeltern und andere Verwandte zu befragen, was diese aus
ihrer Jugendzeit zu erzählen hätten, - was besonders schön gewesen sei und was
sich seitdem verändert habe? Ob ich da ihren Kindern, unseren Enkeln, nicht helfen
könne? Aus diesem Ansinnen wurde ein kleines Frage-Antwort-Spiel.
Frage: Großvater Martin, Du warst vier Jahre Deines Lebens hier in Sondershausen
auf einer besonderen Schule mit musischer Ausrichtung und Internat. In welchen Jahren
war das? Was war das für eine Schule? Wo ist die gewesen? Was hattet Ihr für Fächer,
und wie war Euer Tagesablauf?
Antwort: Das war eine sogenannte "Fachgrundschule für Musik!" Sie hatte ihren Sitz im
Westflügel des Schlosses. Ich habe sie von 1954-1958 besucht in den Klassen 9-12. 1958
wurde die Schule aufgelöst, weil der Bezirk Erfurt sich nicht zwei Schulen dieser Art leisten
wollte. Die andere war in Weimar-Belvedere und ist heute Musik-Gymnasium daselbst.
Jeder/jede hatte ein Hauptfach (Klavier, ein Streich- oder Blasinstrument u.a.), ein Neben-
Fach (Trompete, Akkordeon, Schlagzeug u.a.) und als Pflichtfach Klavier. Die Schulfächer
waren: Deutsch, Russisch, Geschichte, Gegenwartskunde, Musikgeschichte, Instrumenten-
Kunde, Theorie, Gehörbildung, Rhythmus, Chor und Orchester. Zu den Fächern kam das Üben
(3-4 Stunden täglich): Fingerübungen, Etüden, Sonaten und Konzerte. Das Herz der Schule war
der sogenannte "Weiße Saal" (heute: "Blauer Saal"), zugleich Aula, Proben- und Konzertraum
unserer Schule. Wir waren in Vollverpflegung und durften nur alle 14 Tage nach Hause fahren.
Leiter der Schule war Professor Walter Unger. Die Schule hatte ca. 120 Schülerinnen und Schüler.
Dazu eine entsprechende Zahl an Unterrichtenden, die in der Regel vom Lohorchester Son-
dershausen kamen.
Frage: Was konntest Du mit Deinem Fach-Abitur nach der 12. Klasse anfangen? Antwort: der
Abschluss der Schule berechtigte zum Studium an einer der Musik-Hochschulen, Konserva-
torien oder Universitäten (Musik-Wissenschaft) der DDR. Ich ging damals an die Orcherster-
Schule der Hochschule für Musik "Felix-Mendelssohn-Bartholdy" nach Leipzig bis 1961, studier-
te danach Theologie in Naumburg/S und Berlin und bin Pfarrer geworden.
Frage: Was hat sich seitdem in Sondershausen verändert? Antwort: Zu meiner Zeit gab es im
Schloß (Ostflügel) noch eine Fach-Schule für Bibliothekswesen. Es gab ein Musikaliengeschäft
am Markt. Es gab den Behnert, eine Pferde-Schlächterei in der Nähe der Stadtkirche St. Trini-
tatis, und es gab die Glas-Tanz-Diele, wo wir den Abschluss unserer Tanzstunde gefeiert haben,
zu dem selbstverständlich unsere Eltern anwesend waren. Auf dem Dachboden unserer Schule
konnten wir wunderbar stöbern (alte Möbel, Instrumente, Bilder). Nur leise mussten wir sein,
damit uns der Hausmeister nicht erwischte...
Frage: Großvater, hast Du Erinnerungen an besondere Geschichten, die in Deinem Gedächtnis
geblieben sind? Ja, drei Geschichten, die ich hier anhänge.
1.Erinnerung an Manfred M.
Als ich 1954 an der "Fachgrundschule für Musik" in Sondershausen begann war unter den
Anfängern auch ein Schüler aus Großengottern bei Mühlhausen: Manfred M., der Sohn eines
Schneidermeisters. Er hatte als Hauptfach die Trompete gewählt und Unterricht bei Alfred Kette,
dem Solo-Trompeter der Staatskapelle Weimar, war aber auch ein sehr guter Klavierspieler. Er war
so begabt, dass er bereits nach der 11. Klasse, im September 1957, an die Hochschule für Musik
nach Weimar wechselte. Er spielte an den Wochenenden oft zum Tanz auf, manchmal auch mit
seinem Vater, und von dem Geld und mit der Unterstützung seiner Großeltern, die für den ge-
liebten Enkel ein Schwein gemästet und "freie Spitzen", d.h. über das Ablieferungs-Soll hinaus,
verkauft hatten, hatte er ein Motorrad erworben, mit dem er die Strecken zwischen Studienort,
Elternhaus und Auftritten bewältigte.
An einem der Heimfahrt-Wochenenden, es war genau der 22. September 1957, saßen wir in
unsrer Mensa zusammen. Einer nach dem anderen trudelte ein, je nachdem wie die Züge aus
Erfurt oder Nordhausen eintrafen. Wir schwatzten und lachten. Manchmal wurde auch gesun-
gen. Einige Mädchen beschäftigten sich mit Handarbeiten. Auch Gisela F. war darunter, die
Freundin von Manfred, genannt "Schwänzchen". Es war ein trüber Tag, an dem es leise vor sich
hin regnete. Da wurde Gisela plötzlich blass, nahm ihr Strickzeug herunter und sagte: "Jetzt
ist dem Manfred was passiert!" Und tatsächlich kam wenig später die schlimme Nachricht, dass
Manfred zu eben dieser Stunde tödlich verunglückt war. In der Abenddämmerung auf dem Weg
nach Bad Langensalza zu einer Mugge, bei feuchtem Kopfsteinpflaster, irritiert durch das Fernlicht
des entgegen kommenden Busses, hatte Manfred einen Radfahrer übersehen, ihn leicht gestreift,
war durch eine Notbremsung zu Fall gekommen und unter den Bus geraten...
Wir waren alle schockiert und aufgewühlt, ganz besonders Manfreds Familie und Gisela, und ich
erinnere mich, dass wir mit einer großen Gruppe von Blechbläsern unter Leitung von Dieter Müller,
Lehrer, Orchesterleiter und Komponist in Sondershausen, an der großen Trauerfeier in Großen-
gottern teilgenommen und auch Choräle geblasen haben. Gisela wurde ein Jahr später Patentante
beim 2. Kind von Manfreds Schwester und hält immer noch Kontakt zur Familie.
Wie wäre es wohl ohne diesen plötzlichen Tod mit Manfred weiter gegangen? Hätte er Ludwig Güttler
Konkurrenz gemacht? Wären sie ein Ehepaar geworden, der Manfred und seine Gisela? Wären sie vor
dem Mauerbau in den Westen gegangen oder im Osten geblieben? Die ganze Familie, Manfreds Mutter
zuerst, hatte schwer an diesem Verlust zu tragen.
Ein Unglücksfall. Keinem konnte so recht die alleinige Schuld angelastet werden. Es sei denn dem Wetter
oder dem großen Gott. Wenige Jahre zuvor waren Tausende damit beschäftigt gewesen, ein ganzes Volk
auszurotten, zu erschlagen, zu erschießen, zu vergasen und zu verbrennen. Und der dieses Volk erwählt
hatte, dessen Besitz und Augapfel es war, ließ diese Unmenschen gewähren!
2.Gebetserhörung?
Wir bewohnten als Anfänger der "Fachgrundschule für Musik" eines der großen Zimmer des Internats, das mit sechs Schülern belegt war. Ich kann sie noch alle aufzählen, die da mit mir zusammen gewohnt haben. Drei Betten links, drei Betten rechts. Wenn man vom Gang her das Zimmer betrat, war links der Kachelofen, den wir im Winter zu bedienen hatten, und rechts eine Reihe von Schränken. Ein paar Tische und Stühle waren auch da.
Die Fenster gingen nach Süden, zum Park hin.
Geld war der Familie meiner Kindheit immer knapp. Wie sie das überhaupt geschafft haben, mit vier Kindern
und dem schmalen Gehalt eines Pfarrers in der Ostzone (DDR) über die Runden zu kommen, ist mir bis heute
ein Rätsel. Drei Kinder in Internaten: Potsdam, Sondershausen und Gotha. Georg, unser Jüngster, war noch zu
Hause. Wenn wir wieder an unsere Ausbildungsorte zurück fuhren, ging Vater mit uns ins Amtszimmer an den Kollektenschrank, gab uns von dem Geld und legte einen Beleg in die Kasse. Es gibt für mich nicht den geringsten Zweifel, dass alles korrekt war. Friedemann nahm, was er kriegte; Maria sagte, was sie wollte; mir war alles Geld peinlich. Doch mein mageres Schülerstipendium reichte natürlich vorne und hinten nicht aus.
Zumal mir das Fleißstipendium gestrichen worden war, weil ich mich ideologisch uneinsichtig gezeigt hatte.
Geschenke für Weihnachten und andere Wünsche bestritt Vater mit seinem Tabak-Anbau. Eine Pflanze brach-te 1 Mark (MDN). 999 Pflanzen setzte er. Mehr durften es privat nicht sein. Das war ein äußerst notwendiger
Zugewinn für die Familie! Wir Kinder halfen mit: brechen, fädeln, aufhängen und bündeln. Wenn die Ernte verkauft war, atmeten alle auf. Nun konnte Weihnachten kommen.
An jenem Sonntag hatte ich von Vater Geld bekommen. Ich weiß weder die Summe noch den Verwendungs-zweck. Nur dass ich meinen Zimmergenossen davon erzählt habe, und nachdem ich in der Pause den Verlust bemerkt hatte, in der Klasse in Tränen ausgebrochen bin. Muss ich mich dafür entschuldigen? Ich war noch ein Kind und sang im Schulchor Sopran. Ich war nicht der einzige Junge, der dort saß. Erst gegen Ende der 9. Klas-se kam ich in den Stimmbruch. "Kameraden-Diebstahl" war schon immer ein Delikt besonderer Schwere, und
so war unser Internat ganz schön in Aufruhr! Aber überführt werden konnte niemand.
Ich betete damals mit der ganzen Inbrunst meiner Kindlichkeit darum, das Gott mir den Dieb zeigen möge. Doch lange geschah nichts. Bis ich dann nach einem nächtlichen Toilettengang, schlaftrunken, genau seitenver-kehrt mein Bett suchte. Dietrich hatte das mittlere Bett mir gegenüber. Da war für mich alles klar: er war der
Dieb! Gesprochen haben wir nicht darüber. Was hätte es bringen sollen? Beweise gab es keine, wenn auch die
Vermutung nahe lag, dass es einer aus unserem Zimmer war. Es hätte im Grunde jeder sein können bis auf Horst und mich selbst. Horst ist mein Freund bis zum heutigen Tage. Dietrich und ich, wir haben uns aus den Augen verloren. Doch vielleicht habe ich ihn mein ganzes Leben lang zu Unrecht des Diebstahl bezichtigt!?
3.Trommelrevolver.
Vier Jahre meines Lebens, von 1954-1958, habe ich in einem Internat in Sondershausen verbracht. Die "Fach-grundschule für Musik" war im Westflügel des dortigen Schlosses untergebracht. Das Schloss ist eine große,
unregelmäßige Vierflügelanlage der Fürsten von Schwarzburg-Sondershausen aus verschiedenen Bauzeiten mit Theater und Kapelle. Die letzte Fürstin verstarb 1953. Sie war in der Bevölkerung derart beliebt, dass sie
nach dem Krieg im Schloss verbleiben durfte. Im Hochbarocken Westflügel sind das Vestibül und der darüber liegende "Weiße Saal" besonders hervor zu heben. Der war das Herz der Schule. Als wir 2008 dort zu einem Ehemaligen-Treffen zusammen kamen und Mozarts "Ave verum" sangen, war es, als wären wir nie weg gewe-sen.
Die Geschichte, die ich erzählen will, hat sich 1955, im zweiten Jahr meines dortigen Aufenthaltes zugetragen.
Der 2. Weltkrieg lag ja noch nicht lange zurück, und eines Tages brachte unser Mitschüler Hans-Joachim J. aus
R. einen geladenen Trommelrevolver aus seinem Dorf mit. Es stand wohl eine Hausdurchsuchung an, und das Ding musste weg. Das war die Attraktion. Wir waren sechs Schüler auf unserem Zimmer, und jeder
wollte einmal schießen. Das ging auch, weil gerade ein Zirkus im Park vor dem Westflügel sein Zelt aufgeschla-gen hatte. Immer wenn ein Trommelwirbel einen besonderen Höhepunkt ankündigte, und ein dreifacher Tusch
zu erwarten stand, schossen wir von unserem Zimmer heraus auf die Zeltspitze. Ob auch nur ein Schuss das Ziel erreicht hatte, kann ich nicht mehr sagen. Die sechs Schuss waren jedenfalls schnell abgegeben. Und als das Wochenende heran kam, wurde der Revolver in meinem Koffer versteckt, der harmlos auf einem der Schränke lag. Das wäre auch gut gegangen, wenn die Aktion nicht aus unserem Zimmer heraus gedrungen wäre. Einer der Schüler, der aus Jena kam, hat die Sache beim Wochenend-Urlaub zu Hause erzählt. Und als wir wieder im Internat ankamen, war der Teufel los. Hans Joachim J. musste die Schule verlassen, und auch ich stand auf der Kippe. Nur die Fürsprache der Putzfrauen, die ich immer freundlich grüßte, hat mich gerettet. Ein
wenig Freundlichkeit kann, wie man sieht, mitunter Wunder wirken!
Autor:Martin Steiger |
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