Lutherische Disputation 2.0
500 Jahre nach Reichstag in Worms

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Replik: Für den Glauben und seine Gewissheiten einzustehen, kennzeichnete Luther. Wie steht es heute damit?
Darüber disputieren in lutherischer Manier zwei Historiker: Benjamin Hasselhorn und Klaus-Rüdiger Mai.

Benjamin Hasselhorn: Lieber Herr Mai, 2021 jährt sich Martin Luthers legendärer Auftritt auf dem Wormser Reichstag zum 500. Mal. Sie haben das Buch zum Jubiläum geschrieben. Was können wir vom Wormser Luther lernen, was wir im Reformationsjubiläum 2017 nicht schon vom Wittenberger Luther gelernt haben?
Klaus-Rüdiger Mai: Was haben wir denn im Reformationsjubiläum gelernt? Dass Luther ein Antisemit war? Ein Bauernschlächter? Ein Frauenfeind? Und das, obwohl Luther und Katharina von Bora auch nach heutigen Maßstäben eine moderne Ehe führten? Hat nicht ein angestellter Kirchenhistoriker sogar die famose These aufgestellt, dass Luthers Theologie gefährlich sei und man sich ihr nicht überlassen dürfe, wie man sich auch nicht den Heilkünsten eines Baders aus dem 16. Jahrhundert überlassen würde?
Über vieles haben wir 2017 nur wenig gehört: zum Beispiel über die Bedeutung der Gemeinde als Ort des Glaubens und als Ort, wo Kirche stattfindet, oder über die Komplexität der politischen Auseinandersetzung auf dem Reichstag, hinter der die Frage der Reichsreform stand, die in der Summe Luther und die Reformation begünstigte. Auch die drei reformatorischen Hauptschriften Luthers wurden bisher nur unzureichend in diesem Kontext gelesen. Aber was erwarten Sie von einem Jubiläum, das nur Reformations- und kein Lutherjubiläum sein wollte? Zuweilen vermittelte sich der Eindruck, dass der große, der kantige, der querdenkende Martin Luther den Jubiläumsbeamten peinlich war.

Hasselhorn: Ich finde schon, dass es 2017 positive Ansätze gab, etwa die Betonung des Bildungsimpulses der Reformation und, manchmal zumindest, die Herausstellung von Luthers existenzieller Botschaft vom gnädigen Gott. Aber es stimmt schon, „ausgeluthert“ haben wir uns 2017 eigentlich gerade nicht – obwohl das viele so empfunden haben. Ich habe dagegen den Eindruck, wir haben 2017 höchstens in Ansätzen angefangen, uns mit Luther zu befassen: mit seinem streitbaren Geist, seinem Mut zum Widerspruch aus Gewissensgründen, seinem Beharren darauf, dass es auf die Wahrheit ankommt und nicht auf das, was opportun ist – und nicht zuletzt damit, dass er unermüdlich die Frage nach Gott in den Mittelpunkt stellt, und zwar als eine Frage, die jeder Einzelne für sich beantworten muss.
Sie merken, „mein“ Luther ist der theologische. Ihr Buch handelt aber viel von Politik und lässt die frühe Reformationsgeschichte bis 1521 lebendig werden. Der Wormser Reichstag erscheint einem in Ihrer Darstellung manchmal so, als wäre er einer Folge von „House of Cards“ entsprungen. Muss ich umdenken? Ist die Reformation doch eine in erster Linie politische Bewegung? Stimmt es, was die ältere Forschung manchmal behauptet hat, dass sich aus einer theologischen Spezialfrage wie der Rechtfertigungslehre, die noch heute selbst den theologischen Examenskandidaten Schwierigkeiten macht, niemals eine weltweite Bewegung entwickelt hätte? Ging es Luther doch nur um Politik?
Mai: In einer Zeit, die immer wieder vergisst, dass nicht heutige Maßstäbe, sondern zuerst die Maßstäbe der betreffenden Zeit anzulegen sind, wird es wichtig, die Differenz deutlich zu machen. Religion war vor 500 Jahren keine Privatsache, sondern Grundlage der öffentlichen Moral, der gesellschaftlichen Organisation und Mittel der Politik. Davon hat uns Luthers Zwei-Regimenten-Lehre gottseidank befreit. Es ist interessant zu sehen, wie sich aus Luthers theologischer Position der Rechtfertigung aus dem Glauben allein die Ablehnung der Werkgerechtigkeit und, als deren Veitstanz, des Ablasshandels entsteht.
Interessanter aber – und wie zu Luthers Bestätigung – ist es zu beobachten, dass zwangsläufig das Zurückfallen hinter die Zwei-Regimenten-Lehre, die Politisierung die Kirche, zu einem neuen Ablasshandel treibt. Johann Eck in Ingolstadt und einige Kardinäle und Prälaten an der Kurie in Rom hatten im Gegensatz zu Luther sofort begriffen, dass Luthers Ablassthesen insofern extrem politisch waren, weil sie einen Angriff auf die Macht der Kurie darstellten. In einer Welt, in der Religion nicht Privatsache, sondern politisches System ist, wird jede Glaubensfrage zu einer Frage der Politik. Die Unterscheidung traf erst Luther. Luthers Reise nach Worms zum Reichstag führt den Reformator genau zu dieser grundsätzlichen Trennung der beiden Sphären und mithin zu einer der essentiellen Grundlagen unserer modernen Welt. Die gerade wir lutherischen Christen verteidigen müssen.

Hasselhorn: Über die Politisierung von Religion wurde ja in den letzten Jahren sehr viel diskutiert. Die einen fordern von der Kirche politische Zurückhaltung und Konzentration auf das „Kerngeschäft“ des Glaubens; die anderen betonen, dass der Glaube selbst zu gesellschaftlichem Engagement treibt und eine Entpolitisierung von Religion dazu führen würde, dass der Glaube lebensfremd wird und zu einer reinen Innerlichkeit verkümmert. Auf welcher Seite dieser Debatte steht Ihr Wormser Luther?
Replik: Für den Glauben und seine Gewissheiten einzustehen, kennzeichnete Luther. Wie steht es heute damit?
Darüber disputieren in lutherischer Manier zwei Historiker: Benjamin Hasselhorn und Klaus-Rüdiger Mai.

Mai: Ist Glauben äußerlich? Er mag weltfremd sein mit Blick auf eine Welt des kalten Nutzens, des Konsums und der Effizienzmaximierung des Menschen; lebensfremd wäre er dadurch nicht, sondern genau das Gegenteil: zutiefst lebendig. Leben bedarf der Perspektive des ewigen Lebens. Paradigmatisch für die Frage des gesellschaftlichen Engagements und des Glaubens bleibt aber Jesu Antwort an Pilatus: „Mein Reich ist nicht von dieser Welt.“ Gerade Luther unterscheidet in der Vorbereitung auf die Leipziger Disputation 1519 zwischen äußerer Kirche und innerer Kirche und kommt zu dem Schluss, dass es in manchen Situationen geboten ist, eher die Exkommunikation und den Kirchenbann zu ertragen (die allesamt die äußere Kirche betreffen), als die Gemeinschaft mit Christus aufzugeben, in der er den Weg des Seelenheils und die Insistenz der inneren Kirche sieht. Er sagt deutlich, dass man Gott mehr gehorchen muss als den Menschen, auch als den Päpsten, Konzilen und Synoden, den Kardinälen und Bischöfen, da sie oft geirrt hätten. Und von hier aus wird es deutlich, dass Luther in Worms den Widerruf verweigert, weil sein Gewissen im Wort Gottes gefangen ist.
Es ist ja gerade der Sinn der Zwei-Regimenten-Lehre, dass der Christ sich in der Kirche sammelt und im Glauben stärkt, außerhalb der Kirche sich gesellschaftlich engagiert, aber als Individuum, als Bürger, als Christ – nur kann und darf das die Kirche nicht für ihn tun. Luther betont, dass kein Bischof das Recht hat, etwas über einen Christen zu sagen. Die größte Gefahr für die äußere Kirche, die Institution, besteht in der Veräußerlichung, der Selbstsäkularisation, im Funktionärwerden ihrer Amtsträger, in der Entmachtung und der Marginalisierung der Ortsgemeinden. Nur das Leben in den Ortsgemeinden, Gottesdienste, die keine Parteidienste sind, in denen gepredigt und nicht ideologisiert, sondern vom Glauben gesprochen wird, schützt die Kirche vor der Verweltlichung.

Hasselhorn: Das heißt, Luther kämpft 1521 in Worms gegen einen überzogenen politischen Machtanspruch der Kirche?
Mai: Nein, er trat überhaupt gegen den politischen Machtanspruch der Kirche, gegen ihre Verweltlichung auf. Das war die Konsequenz seiner Theologie, die von der Rechtfertigung des Menschen vor Gott aus dem Glauben heraus ausging. Christ zu sein, bedeutet zuallererst, Christus zu folgen. Mit dem Auftritt vor dem Reichstag nimmt er sogar, wie ich im Buch zeige, die weltliche Obrigkeit in die Pflicht, die Kirche zu reformieren, sie wieder in den geistlichen Bereich zurückzuführen, dass sie dort ihrer Verantwortung gerecht werde: Die Kirche ist nämlich nicht für die Weltrettung, sondern für die Rettung der Seelen zuständig. Es gilt, Luthers Theologie nicht als „gefährlich“ abzutun, sondern als zukunftsweisend zu verstehen. Die Lehre von Worms anzunehmen, nicht nur in Behauptungen, sondern im Gehalt und in der Tat Luthers Zwei-Regimenten-Lehre wieder zur Richtschnur des eigenen Handelns zu machen und parteipolitischen Versuchungen zu widerstehen, wäre die via regia aus der Krise der Kirche. Nicht umsonst baute Luther die neue Kirche von den Ortsgemeinden her auf. Alles beginnt mit ihnen und alles endet bei ihnen – jedenfalls in einer Kirche, die evangelisch sein will.

Mai, Klaus-Rüdiger: Und wenn die Welt voll Teufel wär – Martin Luther in Worms, Evangelische Verlagsanstalt, 380 S., ISBN 978-3-374-06617-9, 25 Euro
Bezug über den Buchhandel oder den Bestellservice Ihrer Kirchenzeitung: Telefon (0 36 43) 24 61 61

Autor:

Michael von Hintzenstern

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