Geld für alle

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Aus protestantischer Sicht: Das Bedingungslose Grundeinkommen und die Frage: Was zählt eigentlich als Arbeit?


Von Dennis Sinemus

Die Umsetzung der Agenda 2010 führte zu einer erheblichen Ausweitung des Niedriglohnsektors auf dem deutschen Arbeitsmarkt und damit verbunden zu einer Zunahme prekärer Arbeitsverhältnisse. Mit den Auf- und Umbrüchen in der zunehmend globalisierten und digitalisierten Arbeitswelt geht der Verlust an stabilen und verlässlichen Lebenslagen und damit eine höhere psychische Belastung einher.
Die Erwerbsarbeit bestimmt heutzutage die Lebensführung der meisten Menschen wie auch der Gesellschaft insgesamt. Wer von der Teilhabe an der Arbeitswelt ausgeschlossen wird, empfindet dies häufig als schwerwiegendes Defizit. Arbeitslosigkeit führt oft zu Armut und zum Verlust von Selbst- und Fremdwertschätzung und verhindert gesellschaftliche Integration und Partizipation. Angesichts der grundlegenden Bedeutung von Arbeit und auch der zentralen Rolle der Erwerbsarbeit für die moderne Gesellschaft muss soziologisch, politisch und aus theologisch-protestantischer Sicht die Würde und der Wert der Arbeit wie auch die Zukunft der Arbeitswelt reflektiert werden. Im Hinblick auf die Gesellschaft und den deutschen Arbeitsmarkt sowie mögliche Entwicklungen in der Arbeitswelt – auch im Kontext der Digitalisierung – werden zunehmend Ideen eines bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) in Politik und Gesellschaft diskutiert.
Ein Einkommen, das jeder Mensch ohne Gegenleistung erhalten soll, scheint mit dem Protestantismus auf den ersten Blick nicht vereinbar zu sein. Schließlich predigte doch Martin Luther, dass der Mensch zur Arbeit geboren sei, wie der Vogel zum Fliegen.
Luther stellte allerdings nicht die Arbeit, sondern den Beruf in den Mittelpunkt seiner Vorstellungen des tätigen Lebens. Arbeit ist nach Luther als Beiwerk der göttlichen Berufung zum Dienst am Nächsten zu verstehen. Die Würdigung der beruflichen Arbeit im alltäglichen Leben als Gottesdienst ist die entscheidende Erkenntnis Luthers, die zur Entwicklung der protestantischen Arbeitsethik und zur wirtschaftlichen Dynamik führte. Mit dem Zeitalter der Aufklärung und später im Zuge der Industrialisierung sowie im Kontext der Umstellung
auf die Erwerbsarbeitsgesellschaft hat sich das Arbeitsverständnis gewan-
delt. Losgelöst von einer geistlichen Begründung führte diese Entwicklung zu einer Entfremdung der Arbeit und zu einer Engführung auf reine Erwerbsarbeit, die nicht den zentralen Glaubensinhalten evangelischer Christen entspricht.
Mit den arbeitsethischen Vorstellungen Martin Luthers, der Aufwertung der »vita activa« und der theologischen Bestimmung der Arbeit als Beruf, wurde das auf den Dienst am Nächsten gerichtete tätige Leben als die dem Menschen angemessene Haltung herausgestellt. Marktbestimmte Arbeit erschwert heut-
zutage jedoch den Dienst am Nächsten und ein BGE kann hier die Arbeit von der Marktlogik entkoppeln. Denn wer auf beliebige Erwerbsarbeit angewiesen ist, genießt nur selten die Freiheit, einer Tätigkeit nachgehen zu können, die seiner Berufung entspricht und den Dienst am Nächsten ermöglicht.
Neben Luthers Arbeitsverständnis, der prinzipiellen Gleichordnung der Arbeit und seiner kritischen Haltung gegenüber der Engführung auf reine Erwerbs- und Lohnarbeit, ist schließlich insbesondere seine hohe Wertschätzung der Familien- und Reproduktionsarbeit zu erwähnen. Ein BGE kann durchaus die Versorgungsökonomie stützen, einen Beitrag zur Geschlechtergerechtigkeit leisten und muss daher stets emanzipatorisch gedacht und darf nicht als eine sogenannte Herdprämie verstanden werden.
Bei dem BGE handelt es sich allerdings lediglich um ein Einkommen. Arbeit ist weiterhin notwendig, da mit ihr Wertschätzung, Anerkennung, gesellschaftliche und politische Teilhabe und Lebenssinn verknüpft sind. Nur eine graduelle Einführung eines Grundeinkommens erlaubt einen verantwortungsvollen Umgang mit unvorhersehbaren Konsequenzen.

Der Autor ist Master-Student für Geschichte und Evangelische Theologie an der Ruhr-Universität Bochum. »Das bedingungslose Grundeinkommen aus protestantischer Sicht« lautete der Titel seiner Bachelorarbeit.

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Bedingungsloses Grundeinkommen (BGE)

Das BGE-Konzept sieht vor, dass jeder Mensch eine identische finanzielle Zuwendung erhält – unabhängig von seiner wirtschaftlichen Lage und ohne dafür eine Gegenleistung erbringen zu müssen. Weder die Bedürftigkeit noch die Bereitschaft zur Erwerbs­tätigkeit werden geprüft. Alle allgemeinen Sozialleistungen wie Arbeitslosengeld, Sozialhilfe oder Kindergeld würden entfallen. Zur Umsetzung und der Höhe eines BGE gibt es veschiedene Modelle.
Die grundsätzliche Begründung eines BGE wird in der Ermöglichung eines menschenwürdigen Lebens für jeden gesehen. Es erhöhe die individuelle Risikobereitschaft, fördere Selbstständigkeit und Unternehmergeist und damit Innovation und Flexibilität. Es schaffe die Voraussetzung zur Freiheit und Selbstverwirklichung, auch mit Tätigkeiten, die nicht als Erwerbsarbeit entlohnt werden, beispielsweise im sozialen Bereich: in der Kinder-
erziehung, in der Betreuung nicht selbstständiger Menschen (Alte, Behinderte) oder der Jugendarbeit.
Die Auswirkungen auf Arbeitsmarkt und Preise sind bei keinem Modell vollends vorhersehbar. Bei der Ersetzung des Sozialversicherungssystems fiele das Prinzip der Leistungsgerechtigkeit weg, wodurch Bürger häufiger zur Untätigkeit verleitet werden könnten. Es bestünde das Risiko, für niedrig entlohnte und beson-
ders unangenehme Arbeiten keine Arbeiter zu finden. Außerdem könne im BGE ein Anreiz zu verstärkter Einwanderung liegen.
Die Idee des BGE wird weltweit diskutiert und in verschiedenen Formen bereits teilweise oder auf Probe umgesetzt. Ein zweijähriges Experiment in Finnland testet derzeit ein Grundeinkommen von monatlich 560 Euro an 2 000 zufällig ausgewählten Arbeitslosen. (G+H)

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Mehrheit ist dafür: Ergebnisse einer aktuellen Umfrage zum BGE | Foto: www.splendid-research.com
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