Speise zur rechten Zeit, die nicht abspeist

Aller Augen warten auf dich, Herr, und du gibst ihnen ihre Speise zur rechten Zeit.
Psalm 145, Vers 15

Von Jörg Uhle-Wettler

Viele Leser hören bei diesem Wochenspruch gleich eine Melodie mit erklingen, wenn sie ihn lesen. Heinrich Schütz: Aller Augen warten auf dich, Herre (Evangelisches Gesangbuch Nr. 461). Zäsur ist angesagt, wenn angestimmt wird. Konvente, Seminare, Klausuren, wenn es Mittag wird – kommt die heilsame Unterbrechung des Alltags. Und etwas zum Essen. Speise. Wenn der Magen knurrt – machen Diskus­sionen auch keinen Spaß.
Der Psalm ist von aktueller Realistik. Nach dem Scheitern politischer Weltreiche und sogenannter neuer Weltordnungen breitet sich der Hunger immer mehr aus. Hungergeschichten durchziehen die gesamte Bibel. Im Erntedankkontext will ich hier die drei Worte »zur rechten Zeit« betonen.
Ein Geschäftsmann, der über siebzig Angestellte verfügte und sich nach einer Herzoperation erholen musste, erzählte mir, er habe Hunderte von Geschäftsessen erlebt. Wunderbare Speisen und edelste Tropfen. In der Rehaklinik erschien eines Tages sein – ihm fremd gewordener – Bruder. »Hier«, sagte er, »ich habe dir zwei Äpfel aus dem Garten mitgebracht und für dich geschnitten. Was soll man denn sonst mitbringen?« Diese beiden Äpfel, Speise zur rechten Zeit, haben ein Umdenken in ihm bewirkt. Er schämte sich seiner Tränen nicht. Seine Augen sahen durch den Schleier klarer. Zwei Äpfel, vom Bruder gesammelt und geschnitten, Speise – Geste – Worte. Mehr bedarf es nicht – im Überfluss, der oft Überdruss erzeugt.
Der Herr sendet auch Boten aus, Speise zu bringen. Menschen und Raben. Und an diesem Wochenende werden es viele Abendmahlshelfer in den Kirchen unseres Landes sein. Dieses Mahl stärkt und macht nicht satt. Der Satte wird faul, der Gestärkte kann den weiten Weg weiter ziehen. Ein Stück Brot, ein Glas Wein, eine liebende Hand werden reichen. Dann könnten auch wir anderen Menschen Äpfel schneiden, Nüsse knacken oder Apfelsinen schälen – und zu Boten werden. Viele Augen warten dankbar auf ihre Speise, die nicht abspeist. Das ist etwas anderes als: Piep, piep, piep, wir haben uns alle lieb.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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