Sorgenfresser

Foto: Adrienne Uebbing

Kommentar von Sabine Kuschel

Ich wusste gar nicht, was ein Sorgenfresser ist, als mein Patenkind sich einen solchen wünschte. Eine Plüschfigur, dessen Schlund sich mit einem Reißverschluss öffnen lässt und dem Kinder gern ihren Kummer – auf einen Zettel notiert oder aufgemalt – übergeben. Raphael ist acht Jahre alt. Er geht in die zweite Klasse. Am Ende der ersten Klasse war deutlich, dass das Lesen ihm schwerfällt. Deshalb musste er sogar im Urlaub an der Ostsee jeden Tag üben.
Ob ihm ein Sorgenfresser helfen könnte? Auf einen Zettel schrieb Raphael: »Ich muss besser lesen können« und vertraute seinen Kummer dem Fachmann für Sorgen im blau-weiß gestreiften Anzug an. Als ich mich nach einiger Zeit erkundigte, ob es Anzeichen für das erfolgreiche Wirken des Sorgenexperten gebe, wies mich Raphael zurecht: »Das geht nicht so schnell!« Natürlich, sich einzig und allein auf den kleinen Helfer zu verlassen, wäre zu kurz gedacht. Der Junge muss weiterhin täglich Lesen üben.
Eines Abends die Überraschung. Raphael rief an, um mir zu erzählen, dass das Zettelchen, auf dem er seinen Kummer notiert hatte, aus dem Bauch des Sorgenfressers verschwunden sei. Augenscheinlich aufgefressen. »Und wie geht’s mit dem Lesen?«, fragte ich zurück. »Gut«, antwortete der Junge.
Wenn ich mit meinem eigenen Latein am Ende bin, müssen noch längst nicht alle Möglichkeiten ausgeschöpft sein. Die kindliche Hoffnung muss nicht, aber kann religiös gedeutet werden. Gott will unsere Sorgen tilgen, denn in der Bibel steht: Alle eure Sorgen werft auf den Herrn. Nun ist dieser biblische Rat für einen Achtjährigen wahrscheinlich noch nicht nachzuvollziehen. Dafür »wirft« das Kind seinen Kummer in den Sorgenfresser und signalisiert, dass es auf eine Kraft hofft, die außerhalb seiner selbst liegt.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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