Inklusion mit Augenmaß

»Mit dem Wort Inklusion wird ein Paradigmenwechsel markiert. Es geht nicht mehr um die Integration einer kleinen abweichenden Minderheitsgruppe in die ›normale‹ Mehrheit. Vielmehr soll die Gemeinschaft so gestaltet werden, dass niemand aufgrund seiner Andersartigkeit herausfällt oder ausgegrenzt wird«, 
formulierte der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, im Vorwort der Orientierungshilfe zur Inklusion. | Foto: Aktion Mensch
  • »Mit dem Wort Inklusion wird ein Paradigmenwechsel markiert. Es geht nicht mehr um die Integration einer kleinen abweichenden Minderheitsgruppe in die ›normale‹ Mehrheit. Vielmehr soll die Gemeinschaft so gestaltet werden, dass niemand aufgrund seiner Andersartigkeit herausfällt oder ausgegrenzt wird«,
    formulierte der Vorsitzende des Rates der EKD, Heinrich Bedford-Strohm, im Vorwort der Orientierungshilfe zur Inklusion.
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Kirche, Diakonie und Inklusion sind nahe Geschwister; Maßstab für das Gelingen von Inklusion ist immer der konkrete Mensch.

Von Klaus Scholtissek

Wenn Inklusion heißt, Menschen mit Behinderungen zu einer höchstmöglichen Teilhabe mitten im Leben unserer Gesellschaft zu begleiten und die dafür notwendigen Strukturen zu schaffen, Kranken, schuldig Gewordenen, körperlich und seelisch Verletzten beizustehen, dann folgen Kirche und Diakonie den Spuren und dem Auftrag Jesu.
Sein Kompass ist eindeutig: Er hatte einen liebenden Blick für suchende, verletzte Menschen, für Menschen mit zweifelhaftem Ruf, für Marginalisierte und Traumatisierte. Jesu inniges Beten hat ihn nicht von der Nähe zu Menschen weg-, sondern geradewegs zu ihnen hingeführt.
Das Doppelgebot der Gottes- und Nächstenliebe hat Jesus in seiner jüdischen Glaubensüberlieferung vorgefunden und neu in den Mittelpunkt gerückt. In den Spuren Jesu haben viele eine erstaunliche Erfahrung gemacht: Wer versucht, ganz in Gott einzutauchen, sich ihm und seinem Willen (vgl. die Vaterunser-Bitte) zu überlassen, der taucht neben dem Menschen wieder auf. Und umgekehrt: Wer sich Menschen uneigennützig zuwendet und fremde Nähe zulässt, kann in diesen Begegnungen auch Gott beziehungsweise Jesus Christus finden. Christlicher Glaube öffnet die Sinne für die Gebrochenheit und Zerbrechlichkeit menschlichen Lebens, für sündhafte Strukturen, die Menschen gefangen nehmen. Christlicher Glaube hat eine eigene Balance von Leidenschaft und Nüchternheit.
In der aktuellen Diskussion haben die Stichworte »inklusive Gesellschaft« und »inklusive Schulen« Konjunktur. Sie stehen für ein gutes Ziel – sie können aber auch zu Schlag-Wörtern werden, mit denen um sich »geschlagen« wird. Manchmal verstecken gut gemeinte Worte genau die Menschen und ihre Lebenssituation, die wir doch verbessern wollen, und die konkreten Strukturen, die dabei helfen oder bremsen.
In Thüringen wird ein neues »inklusives Schulgesetz« vorbereitet, das Förderschulen in sogenannte Kompetenzzentren umwandeln möchte. Bisher sind Eckpunkte des Gesetzes bekannt. Die Diskussion hierzu schlägt zu Recht hohe Wellen: Werden Förderschulen kurzerhand abgeschafft? Werden Regelschulen mit den notwendigen sachlichen und personellen Ressourcen für eine überzeugende inklusive Pädagogik ausgestattet? Kommen Kinder mit hohen Förderbedarfen unter die Räder? Soll die Diagnostik und damit auch Frühförderung und Prävention erst auf die Zeit nach dem Schuleintritt verschoben werden?
Inklusion mit Augenmaß heißt für mich: Einfache Lösungen gibt es nicht, dafür sind Menschen zu unterschiedlich. Es gibt nicht »die Behinderten«! Die Unterscheidung von körperlichen, seelischen, geistigen und Sinnesbehinderungen ist bestenfalls eine allererste Annäherung.
Ich erlebe in Diskussionen oft, dass schwer-, schwerst- und schwerstmehrfachbehinderte Kinder und Jugendliche überhaupt nicht vorkommen. Die Hilfe- und Förderbedarfe sind komplex und anspruchsvoll. Also braucht es eine Vielzahl von fachlich kompetenten und evaluierten Angeboten. Für viele Kinder mit erhöhten Förderbedarfen braucht es auch in Zukunft geschützte Räume in bewährten Förderschulen. Genau hier wird für diese Kinder und Jugendliche passgenaue Inklusion verwirklicht.
Inklusion mit Augenmaß für mich: Maßstab für das Gelingen von Inklusion ist immer der konkrete Mensch, seine Bedarfe und die für ihn spürbaren Fortschritte. Von oben verordnete, pauschalisierte und vom Reißbrett administrierte Inklusionsmaßnahmen
können das Gegenteil bewirken: Sie führen zu Inklusionsopfern. Eltern und Pädagogen haben mir von konkreten Leid- und Ohnmachtserfahrungen erzählt.
Schritte zu einer inklusiven Gesellschaft, Arbeitswelt und Bildung brauchen alle Akteure an Bord, insbesondere und zuerst die Betroffenen selbst, ihre Interessenvertretungen, ihre Verwandten und Freunde, die Fachkräfte vor Ort in den Förderschulen, die Lehrer- und Fachverbände, die freien Träger, Elternvertretungen, Verwaltungen und Parteienvertreter.

Der Autor ist promovierter Theologe und Vorsitzender der Geschäftsführung der Diakoniestiftung Weimar Bad Lobenstein.

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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