SECHSUNDNEUNZIG
WEIL ER EIN ENGEL WAR
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Er war nun wirklich alt geworden, sehr alt geworden. 96 Jahre, diese komische Zahl, die aussieht wie das Krebszeichen in der Astrologie. Das Tierkreiszeichen zwischen Zwilling und Löwe.. Eine 9 und eine 6, und wenn man es umdreht, ist es wieder eine 9 und eine 6. Und als es ans Sterben ging, da war es dann auch gut. Denn alles tat weh und war so scheußlich und grauenvoll geworden. Aber, so wie er sich das schon immer gedacht und am Ende befürchtet hatte, er stand nun vor der großen Seelenwaage im Vorraum der ewigen Seligkeit. Dort im Himmel, wo Petrus mit den Schlüsseln klimpert und die Engel ernste Gesichter machen. Aber nicht jeder kommt dort auch herein. Manche fahren eben ab zur höllischen Glut. Wer aber was von beidem (auf oder ab) erleiden würde, das hing damit zusammen, was man im Leben vorher getan hätte und vor allen Dingen, was man nicht getan hat.
Bei Wilhelm war das so eine Sache. Man hätte über Wilhelm vieles sagen können, auch manches verschweigen sollen. Er war durch die Paraden der Diktaturen marschiert, stets in angemessener Formation, immer im Gleichschritt der Zeitläufte. Hitlerjugend oder die Pioniere, FDJ – und später, als die Geschichte neue Farben verteilte, schimmernde Demokratie, welche mit ihren Ministerpräsidenten und Kanzlerinnen keine geringere Anspruchshaltung pflegte als die jeweiligen Vorgängerregime. Wilhelm war keiner, der sich verweigerte. Er war dabei gewesen. Immerzu dabei. Unauffällig. Zum Schluss hatte er für jemanden gearbeitet, über den wir an dieser Stelle nicht reden wollen. Und da stand er nun, wurde alsbald auch gleich auf die eine Waagschale getackert - und auf der anderen lag jetzt sein Herz. Und das Herz schnellte nach oben, es war zu leicht befunden worden, denn seine Taten auf der anderen Seite - und die Nicht-Taten noch vielmehr - wogen unendlich viel angesichts der hereinbrechenden Ewigkeit. Punkt.
Die Verstoßungsengel nahten sich sachte, um ihn am Schlawittchen zu packen und hinab zu schleudern in die Äonen unabänderlicher Finsternisse. Da schrie Wilhelm „Gnade, Gnade, Barmherzigkeit, Barmherzigkeit” schrie er laut und: „Ihr habt doch immer Barmherzigkeit und Gnade verkündet”. So schrie er. Genau so.
Und nun? Fragezeichen … Die Rettungsengel nahten ebenfalls. Sie geboten den Verstoßungsengeln Einhalt und meinten: „Sage uns, Menschenkind, was hättest du zusätzlich vorzuweisen an ewigen Dingen - und wir hätten das etwa nicht notiert?” Und da erinnerte sich dieser Wilhelm. Und siehe - er hatte mitgespielt in den Krippenspielen, als Kind, als kleines Kind, er war wohl vielleicht vier bis sieben Jahre alt gewesen, oder war er schon in der Schule? Das war so unglaublich lange her. Aber auf jeden Fall in der fröhlichen Christenlehre der Frau Becker, da war er immer mit dabei. Und hatte mit anderen Kindern aus der Heiligen Schrift gehört, sogar eine Kinderbibel hatte er gehabt, die hieß „Schild des Glaubens” und darin waren merkwürdige Figuren zu sehen gewesen, trefflich gemalt, jener Art entsprechend, welche damals Gang und Gäbe war. Der Jesus war schlank, hatte keinen Bart aber lange Haare und alle Figuren waren sehr schön gewesen. Besonders die Maria. Die war ja so was von schön. Und da hatte er mitgespielt, er hatte einen der vielen Hirten gegeben und in einem anderen Jahr den Heiligen Dreikönig. Einmal war er sogar der Josef und durfte die Maria, das war Martina Lehmann - vom Schuldirektor die Tochter - an der Hand führen, welche sich ein Kissen unter das Wams gesteckt hatte, damit sie schwanger aussähe. Und dann war er sogar ein Engel gewesen. „Ich bin ein Engel gewesen, sagte er, nein rief er - brüllte er. „Ich bin ein Engel gewesen.”
„Was bist du gewesen?” fragten die Verstoßungsengel und lachten. „Ein Engel”, fuhr er fort „im Krippenspiel”. „Oho”, meinten die Rettungsengel sogleich, „da wollen wir mal nachschauen”. Und die Bücher wurden aufgetan. Die Endbücher des absoluten Endes tat man auf. Schwere Bücher waren das. Die Bücher des Lebens – groß wie Altarflügel – sie wurden geöffnet. Das gab ein Geräusch, Leute! ... Und siehe: Am Heiligen Abend 1937 hatte ein zitternder Knabe in viel zu großem weißen Hemd vor dem Dorfaltar gestanden und die uralte Freude verkündet. Nicht perfekt, aber mit einer unschuldigen Inbrunst, die keine Ideologie jemals zu imitieren vermag. Mit Goldschnitt verkündete der Foliantenband vom Jahr des Herrn 1937, dass sich da tatsächlich ein relevanter Eintrag fand. Am 24. Dezember des Jahres 1937. Wilhelm Schultze war da gewesen - und zugleich war er der Verkündigungsengel in der Kirche Sankt Pankratius leibhaftig als Krippenspielkind. Und er hatte gesagt „fürchtet euch nicht, denn siehe, ich verkündige euch große Freude, die allem Volke widerfahren wird, denn euch ist heute der Heiland geboren. Das ist Christus” und so weiter und so fort.
Aufgrund dieser Verkündigung waren damals drei Menschen nicht in die NSDAP eingetreten und das war schon etwas und wog ein paar Gramm.
Und alsbald wurden seine Bande gelöst, seine Fesseln abgetan und ein paar Begleitungsengel umringten ihn, gaben ihm eine Harfe, einen Palmzweig, nahmen ihm den Palmzweig wieder ab, denn die Harfe war genug, trugen selber den Palmzweig und begleiteten Wilhelm Schulze durch das Himmels-Tor hindurch in die ewige Seligkeit. Punkt.
Moralisatio Charissimi. Ausrufezeichen! Wenn ihr wollt, dann spielt einfach in einem Krippenspiel mit und wenn sich keine Gelegenheit dazu ergibt, weil keine Krippenspiele mehr gegeben werden - denn die Zeiten sind schlimm geworden und es ist böse Zeit - dann denkt euch eins aus und lest es euch selbst vor, damit ihr dort nicht hintretet, wo sie alle eintreten, sondern dermaleinst zugelassen werden könnt zum Reiche des goldenen Scheins jener Wirklichkeit, deren Schein sie selber ist. Weil ihr dann zu den Engeln gehört habt. Eure Namen stehen bereits in den Büchern, deren Seiten so groß sind wie Altarflügel ...
Autor:Matthias Schollmeyer |
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