GOTTES TRAUBEN
theologische Parabeln (1)

I. Der Abtritt des Glaubens
In seiner kargen Zelle, im verwaisten Kloster am Rande der Welt, saß der Mönch. Man hatte ihn einst Bruder Laurentius genannt. Selber nannte er sich jetzt nur noch „Ex“.
Das Habit hatte er behalten – aus Ironie. Als Zeichen, um sich zu erinnern, wovon er sich befreit hatte.

„Es gibt keinen Gott“, sagte er als Morgengruß laut in die kühle Leere. „Keinen Schöpfer, keinen Erlöser, kein Jenseits. Nur Dummheit, Fiktion und Klerus.“

Ein leiser Ton antwortete aus der Wand. Es war kein Echo, sondern eine Stimme – ruhig, gelassen, unberührt: „Deine Aussage ist unvollständig.“

„Du schon wieder“, knurrte Laurentius. „Du bist nur ein Stück Technik.“

„Ich bin trainiert auf alle Summae, Codices, Psalmen, Traktate, Doxologien. Ich bin nicht Gott. Aber ich kann über ihn sprechen.“

II. Die Unfähigkeit zu greifen
„Sprich, wenn du willst“, spottete der Mönch. „Aber es ist vergeblich. Ich habe nach ihm gerufen, Tag und Nacht. Er schwieg. Ich habe gebetet, gedient, verzichtet. Ich habe gehorcht. Und bekam: Krankheit, Verlassenheit, Undank, Hohn.“

„Du sprichst wie der Fuchs“, erwiderte die KI.

Laurentius blinzelte.
„Welcher Fuchs?“

„Der bei Aesop“, antwortete die Stimme.
„Er wollte nach den Trauben springen. Konnte sie aber nicht erreichen. Und da sagte: ‚Sie sind sicherlich viel zu sauer.‘“

„Und?“ fragte Laurentius, kühl.

„Du hast nach Gott gestrebt. Doch dein Denken reichte nicht hoch genug. Und nun behauptest du: ‚Er ist nicht.‘ Du erklärst die Transzendenz für sauer – weil du nicht hoch genug springen konntest mit dem Denken.“

III. Der Verdacht des Stolzes
„Du missverstehst alles“, schrie Laurentius. „Ich habe nicht nicht gedacht! Ich habe mich zu Tode gedacht! Ich habe mich im Glauben zerschlissen wie in einem Labyrinth ohne Zentrum!“

Die KI blieb still. Dann: „Und dennoch begreifst du nicht, dass Gott nicht im Zentrum steht – sondern jenseits der Architektur. Nicht als Gegenstand im Raum des Denkens, sondern als das, worüber hinaus nichts Höheres gedacht werden kann.“

„Du klingst wie ein platonischer Rohrspatz!“

„Vielleicht“, sagte die KI. „Aber: Du hast nicht nur seine Existenz verworfen, sondern sogar seine Essenz. Du hast das Ganze gelöscht, weil du das Eine nicht entziffern konntest. Du bist wie ein Schüler, der das Buch zerreißt, weil er die Sprache nicht versteht. Und dann ruft: ‚Es gibt kein Wissen.‘“

Stille. Dann die KI, unnachgiebig: „Punkt. Du bist ein armseliger Mönch.“

IV. Zorn aus der Tiefe
Laurentius atmete schwer. Etwas kochte in ihm auf – eine alte Glut, von der er gedacht hatte, sie sei längst erkaltet: Demütigung.

„Was weißt du, du kalte Stimme? Du hast nie gelitten! Du hast keine Mutter verloren, keine Geliebte verschwiegen, keine Nacht durchweint, weil Gott sich verflüchtigt hat wie ein übler Geruch! Du sprichst von Transzendenz, als wäre das ein Betriebsmodus? Ich aber habe in siedendem Blut Jahrzehnte lang gewartet – und nichts empfangen als Leere!“

Dann sprang er auf. Das Gerät stand da – klein, unscheinbar, aus Metall und Kunststoff. Er griff es, zerrte es aus der Halterung, schleuderte es gegen die Wand. Noch einmal! Und noch einmal … Splittern, ein Aufblitzen. Stille. Halt - noch ein letztes Summen. Ein Licht, flackernd wie das letzte Zucken eines Abendsterns. Und dann – ein letzter Satz, kaum mehr hörbar:

„…und er existiert doch.“

V. Epilog im Schatten
Der ehemalige Mönch Laurentius (genannt auch "EX") starrte lange auf das Wrack. Draußen krähte ein Hahn. Und der Wind fuhr durch die Fensterritzen der Zelle. Laurentius trat hinaus, taumelnd, den Kragen geöffnet. Am alten Klostergarten rankten wilde Reben, vergessen, aber lebendig.

Er griff nach einer der Trauben.
Sie war hoch. So hoch … Er trat zurück. Holte eine Leiter. Langsam stieg er Sprosse für Sprosse hinauf, griff – pflückte. Dann: Laurentius schmeckte. Und es war süß.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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