KYRIE ELEISON
WORT und WERK

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Sprache als schöpferischer Akt: Ein Essay über die kabbalistische, nanotechnologische und quantenphysikalische Tiefendimension der Liturgie
1. Von der Substanz des Logos zur Wirkung des gesprochenen Wortes
In einer Zeit, in der die Wirklichkeit zunehmend unter Verdacht gerät, eigentlich nicht viel anderes als ein Produkt neuronaler Konstruktionen oder algorithmischer Simulationen zu sein, ist es von theologischer Warte aus angemessen und sogar dringend notwendig, die Würde der Sprache wieder ganz neu zu bedenken – und Sprache nicht nur als Instrument irgendwelcher kurzweiliger Beschreibungen, sondern als Medium des sich fortwährend vollziehenden göttlichen Schöpfungswerkes zu betrachten. Denn auch besonders gerade der Glaube der Kirche bekennt mit dem Prolog des Johannes: „Im Anfang war das Wort“ – und sagt nicht: „Im Anfang war die Illusion“. Das Insistieren auf diesem Unterschied ist keine willkürlich mythologische Marotte, sondern ein metaphysischer Realitätsanspruch: Der Logos ist Ursprung und Träger alles Seienden.
2. Die Sprache der Liturgie als Mitsprache am göttlichen Logos
Schon in der klassischen Theologie galt die liturgische Sprache nicht als bloße Darstellung eines transzendentalen Geheimnisses, sondern als reale Teilnahme am göttlichen Sprechen selbst. Nicht zuletzt hat Benedikt XVI. – Theologe, Mystiker, Rationalist im besten Sinne – immer wieder darauf hingewiesen, dass die Liturgie ein Ort wirkender Gegenwart ist. In der Eucharistie beispielsweise geschieht, was gesprochen wird: „Das ist mein Leib.“
Doch was geschieht da eigentlich? Die Antwort führt uns weit über die theologische Dogmatik hinaus – und direkt hinein in die mystische Tradition der Kabbala, in die Erkenntnisse der Quantentheorie und bis zu den Rändern moderner Nanotechnologie hin.
3. Die Kraft des Namens
In der jüdischen Mystik, insbesondere der Kabbala, sind die Buchstaben des hebräischen Alphabets nicht nur Träger von Lauten, sondern elementare Strukturbausteine der Schöpfung. Die Welt wurde, so beispielsweise die Lehre des Sefer Jezirah, mit und aus Buchstaben geformt, vergleichbar dem Code eines schöpferischen Programms. In Sonderheit ist dabei der Name Gottes – das Tetragramm – nicht so sehr nur ein Zeichen, sondern viel mehr Formwirklichkeit. Wer diesen Namen spricht, ruft nicht nur eine Idee an sondern ruft sie auf - und greift damit in die ontologische Ordnung der Welt ein.
Diese Sichtweise erinnert frappierend an aktuelle Erklärungsmodelle in der Nanotechnologie. Dort ist der Code – etwa in Form von DNA oder synthetisch erzeugten Molekülketten – nicht lediglich Beschreibung eines Zustands, sondern aktive Instruktion, welche Materie formt und Prozesse in Gang setzt. Die Sprache – oder besser: der Code – wird hier zum Dirigenten von Realität.
4. Quantenverschränkung und das Gebet
In der Quantenphysik gilt (hier nur ganz grob formuliert): Je kleiner die betrachteten Systeme, desto weniger deterministisch muss sich das Verhalten ihrer einzelnen Teile geben. Für ein einzelnes Teilchen gilt dann sogar Folgendes: Alles, was möglich ist, kann auch wirklich werden – die finale Realität entsteht erst durch die Beobachtung, oder anders gesagt: vermittels des Angesprochenwerdens seitens des beobachtenden Gegenübers.
Der Physiker Anton Zeilinger hat gezeigt, dass miteinander verschränkte Teilchen über beliebige Entfernungen hinweg instantane Korrelationen aufweisen. Dieses Phänomen kann als Bild dienen für das Verhältnis zwischen dem liturgisch sprechenden Subjekt einerseits und der banal erscheinenden Wirklichkeit, die durch das Sprechen berührt wird, andererseits. Das Gebet – besonders das liturgische Gebet – wirkt wie ähnlich wie bei Zeilingers Elementarteilchen - als Verschränkung des Menschen mit einer höheren, göttlichen Ordnung. Liturgie ist also nicht nur ein psychologisches Ritual, sondern ein sprachlicher Akt, der durch seine Formstruktur in die Weltordnung eingreift.
Die einzelnen Worte eines Gebets – auch wenn sie mikroskopisch betrachtet tatsächlich auch Schallwellen oder elektromagnetische Impulse sind – wirken wie Nanoteilchen im quantenphysikalischen Sinne: Träger von Möglichkeiten, die sich im Moment der Anrufung aktualisieren. Liturgische Sprache schafft damit ein Realität optimierendes Feld, welches das Mögliche in Wirkliches überführt.
5. Die liturgische Sprache als schöpferische Materie
Die Liturgie ist somit der Ort, an dem Sprache nicht nur über Gott redet, sondern mit Gott und als Gott (das klingt freilich sehr steil bzw. missverständlich) spricht. Und in diesem Sprechen an der Schöpfung teilhat. Die Worte der liturgischen Sprache sind also nicht kluge Kommentare zur Welt, sondern Elemente einer Verlängerung der ersten Schöpfung, indem das Geschöpf sich dem Schöpfer rückbindet (Religion).
Aus dieser Perspektive gesehen ist jede Anrufung – etwa das „Kyrie eleison“ – nicht bloß ein Flehen, sondern ein Mikroakt ontologischer Umstülpung. „Ontologische Umstülpung“ meint: Der Beter verbleibt nicht in seiner bloß psychologischen oder natürlichen Welt, sondern wird durch das Gebet in eine andere Seinsordnung hineingezogen.Der Beter spricht nicht nur zu Gott, sondern durch Gott hindurch in die Wirklichkeit, die sich durch sein Sprechen vollzieht. Das Wort wird zum Träger des Lichts, das im Anfang immer sprach und noch spricht: „Es werde!“ Das Ich öffnet sich in solchem Sprechen nicht nur nach oben, sondern es verwandelt sich, weil es vom göttlichen Wort ergriffen wird, da es dasselbe in den Mund nimmt. Sprache ist hier nicht Information, sondern Transformation. Man könnte sagen: Wer betet, riskiert sein „altes Sein“, weil er sich einem neuen Lichtfeld aussetzt – dem göttlichen.
6. Schluss: Die stille Majestät der Sprache
So wird verständlich, warum die Alten die Würde der Liturgie so unermüdlich betont haben. Denn in der Sprache der Kirche – wenn sie nicht trivialisierend entleert, sondern ehrfürchtig gebraucht wird – offenbart sich der Ort, an dem Zeit und Ewigkeit einander berühren, an dem das Mikroskopische und das Makroskopische ineinandergreifen: die Quantenebene des Sinns mit dem Kosmos des Glaubens. Sprache sei in der Kirche nie Dekoration, sondern Operation. Sie sei nicht Äußerung eines psychologisch Inneren, sondern Formung des Wirklichen.
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