AM 12.Oktober: Josua 2,1-22
RAHAB

Wer wissen will, wie die Welt wirklich ist, der soll in die Bibel schauen, in dieses uralte, unverschämte Buch, in dieses Sammelsurium von missratenen Personen, von Gescheiterten, von Wahnsinnigen, von Heiligen, die alle am Irrsinn kranken, den sie dann Glauben oder Nichtglauben nennen, dahinein muss man schauen. Und lesen.

Es geht ja schon los im Buch Genesis mit einem Weib, das sich nicht fügen will, das lieber mit den Tieren Umgang hat - als mit dem lieben Gott, und das, anstatt gehorsam zu sein, die verbotene Frucht in den Mund steckt wie eine Revolutionärin, eine frühe Aufrührerin gegen die göttliche Bürokratie. Sie isst, sie verführt ihren Mann ebenfalls zu essen, sie erkennt – und mit dieser Erkenntnis beginnt das Drama, das wir Weltgeschichte nennen. Und das Weib - wir kennen sie. Denn es ist Eva.

Dann - kaum hat der Mensch den Mund aufgemacht, liegt auch schon einer tot. Kain erschlägt Abel – wegen nichts, wegen einer Kleinigkeit, wegen der gekränkten Eitelkeit, wegen der typischen menschlichen Kränkung, nicht beachtet zu werden, übersehen, übergangen, überflüssig zu sein. Der erste Mord ist ein Beziehungsdrama, wie alle Morde Beziehungsdramen sind, und Gott schaut zu und schützt den Mörder.

Dann kommt Abraham, der Wahnsinnige, der mit einem Messer in der Hand auf seinen eigenen Sohn losgeht, weil eine Stimme es ihm befohlen habe. Und das nennen sie Glauben! Wenn heute einer so etwas täte, würde man ihn zwangseinweisen, aber in der Bibel kriegt er Segen dafür, weil Gehorsam eben Gehorsam ist, auch wenn er Wahnsinn genannt werden müsste. Von Isaak hört man nicht viel Besonderes, er ist ein stilles Opfer, ein Geblendeter, der zwei Söhne bekommt, die sich gegenseitig zerfleischen, der eine ein Dummer, der andere ein Schlitzohr. Und der Schlitzohrige gewinnt, wie immer in dieser Welt der Schlitzohrige gewinnt, weil der Dumme nie versteht, worum es geht. Jakob ist das - er betrügt Esau, flieht, arbeitet sieben Jahre für eine Frau, die er dann nicht kriegt, sondern nur deren Schwester, dann noch einmal sieben, weil der Mensch eben nie bekommt, was er will, sondern immer erst das, was er nicht will. Und später? Gott ringt mit ihm, und anstatt ihn zu zerschmettern, macht er ihn zum Volkshelden, nennt ihn Israel, ein Name, der diesen Leuten heute noch Probleme macht.

Dann kommt Mose, der große Befreier, der als Kind fast ertrunken wäre - zuerst einen erschlägt, dann zum Propheten wird, und am Ende zusehen darf, wie die Kinder am Nil sterben, weil Gott das so will, dieser sonderbare Gott, der sich auf Gerechtigkeit beruft und mit zehn Plagen die Ägypter terrorisiert. David schließlich, der König, der große Liederdichter über die Güte Gottes, während er Uria, den Mann einer schönen Frau an die Front schickt, damit der dort stirbt und sie (Batsheba) frei ist für das königliche Schlafzimmer. Nein, nein - die Bibel kennt keine braven Leute, sie kennt eigentlich nur Täter, Verführte, Gescheiterte. Und das ist der Unterschied zur modernen Moral. Die Bibel lügt nicht. Sie tut nicht so, als wären Menschen gut. Sie zeigt sie, wie sie sind – gnadenlos, gierig, geil, und gelegentlich gläubig.

Und nun - zum Schluss kommt Rahab, die Hure, die man heute wahrscheinlich „Sexarbeiterin“ nennen würde, um die eigene Prüderie zu tarnen. Aber die Bibel sagt „Hure“ und meint „Mensch“. Sie wohnt in der Mauer, sie lebt am Rand, sie lügt, sie verrät, und sie rettet dadurch die Welt. Sie hängt ein rotes Seil aus dem Fenster – das rote Seil, das der rote Faden ist, der sich durch die gesamte Weltgeschichte schlängelt, durch alle Predigten, durch alle Irrtümer, durch alle Verzweiflungen. Wer ist diese Rahab? Rahab ist die, die nicht mitmacht. Die, die die GEZ nicht zahlt, die, die sich nicht zwangsimpfen lässt, die, die die falsche Zeitung liest, die falschen Freunde hat, die falsche Partei wählt, die, über die man in der Stadt tuschelt, weil man spürt, wie recht sie hat. Sie ist die, die sich dem Gemeinschaftsquatsch verweigert, die sich nicht in das große „Wir sind die Vielen” hineinlügen lässt. Sie steht am Fenster mit einem roten Seil, und alle schreien: Verräterin! Aber sie ist die Einzige, die noch sieht, dass die Mauern schon längst Risse haben.

Wer wissen will, wie die Welt wirklich ist, muss in die Bibel schauen, nicht in die Tagesschau, nicht in die Leitartikel der Qualitätsmedien, nicht in die moralisch aufbereiteten Phrasen des Tages. Die Bibel ist ein Buch, das den Menschen ernst nimmt, weil sie ihn beim Lügen ertappt, beim Morden, beim Beten, beim Schlafen, beim Glauben. Sie ist das einzige Buch, das uns nicht verbessert, sondern uns verrät – uns entblößt, uns zeigt, wie erbärmlich, wie großartig, wie lächerlich wir sind.

Und vielleicht ist es genau das, was man heute nicht mehr ertragen will: Dass die Bibel kein Erbauungsbuch ist, sondern ein großes "Spieglein an der Wand". Und wer hineinschaut, sieht sich selbst – mit dem roten Seil in der Hand, im Haus an der Mauer, wenige Momente bevor dieselbe in sich zusammenfällt ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

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