Jaques Derrida - 8. Oktober 2004
"JESUS LIEBT DICH"

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Jacques Derrida – Analytiker der abwesenden Mitte
Man kann sich Jacques Derrida als einen Denker vorstellen, der irgendwie stets im Schatten der Sprache gehen wollte. Geboren 1930 in El-Biar, einem algerischen Vorort von Algier, wuchs er auf zwischen Sonne, Schule und Zugehörigkeitsverweigerung – ein französischer Jude in der Kolonie, von allen Sprachen umstellt, von keiner ganz getragen. Vielleicht begann hier, unter dem Glitzern der mediterranen Hitze, jenes lebenslange Misstrauen gegen jede Form von Zentrum: Religion, Identität, Sinn. Er wandte sich der Welt ewiger Grammatik übermorgen am 8. Oktober 2024 zu. Deshalb auch sei an ihn erinnert.
In den Fünfzigern kam er nach Paris, ans intellektuelle Hochspannungsnetz der École Normale Supérieure – jenes Labor, in dem Frankreichs Philosophen zu Sprengmeistern ihrer eigenen Tradition ausgebildet wurden. Er liest Husserl, Heidegger, Freud, Saussure – und beginnt, an der DNA der europäischen Vernunft herumzukratzen. Was andere „Begriff“ nennen, nennt er „Text“; was sie „Wahrheit“ nennen, ist für ihn eine verschobene Spur in der Sprache.
Man hat ihn dann den „Vater der Dekonstruktion“ genannt, als hätte er ein neues besonderes Werkzeug erfunden - eine Art „Dekonstruktionsbesteck”. In Wahrheit erfand Derrida eine Haltung, eine Art philosophische Atmung - nämlich die Weigerung, ein Wort für endgültig zu halten. Er öffnete die Denksätze der Tradition wie alte Musikinstrumente, um zu hören, wo das Holz arbeitet, und wie die Intonation sich ändert, wenn man hierhin oder dorthin den Stimmstock rückt. Seine Methode war jedoch kein Zerstören, sondern ein Lauschen auf die unweigerlich im Laufe der Zeit entstehenden Risse im Resonanzboden – jene feinen Stellen, an denen Begriffe sich selbst zur Resonanz bringen oder dementieren.
Derrida blieb bis zu seinem Tod 2004 ein Nomade zwischen den Kontinenten: Paris, Irvine, New York, Jerusalem. Er sprach mit vielen Theologen, Juristen, Psychoanalytikern – und jedes Mal blieb etwas Unaufhebbares zurück. Das Schweben zwischen Bekenntnis und Frage. Er misstraute jeder klaren Antwort, auch der eigenen. Wenn er sagte, dass Bedeutung immer „aufgeschoben“ sei, meinte er vielleicht auch das Leben selbst – ein Aufschub zwischen Geburt und Verschwinden. Derrida ist der Philosoph einer Welt, in der jedes Wort zittert, bevor es hörbar wird. Er hat uns gelehrt, dass Denken nur dann lebendig ist, wenn es weiß, dass es auf Sand gebaut wurde – und dass gerade dieser Sand, dieser bewegliche Untergrund, das Denken erst bewohnbar macht.
Was würde er wohl zu einem solchen Satz wie „Jesus liebt dich” gesagt - oder besser: geschrieben haben? So etwas wie die Dekonstruktion des Trostes. „Jesus liebt dich” - Es gibt Sätze, die stehen als Wegkreuze an Stellen, wo man sie nicht erwartet hat. Niemand weiß mehr genau, wer diese Stellen und die Kreuze errichtet hat, doch sie ragen in die Landschaft unserer Sprache als Erinnerungspfähle an etwas, das größer war als wir selbst.
„Jesus liebt dich“ ist einer dieser Sätze. Drei Wörter, neun Buchstaben und eine fromme Geschichte der Selbstüberforderung im Denken.
Wer diesen Satz sagt oder schreibt, meint es gut. Wer ihn hört, soll sich angenommen fühlen. Doch was, wenn das, was da gesagt wird, gar nicht gesagt werden kann?
Wenn der Satz, der trösten will, in Wahrheit eine unendliche Kette von Zeichen öffnet, deren Bedeutung stets wechselt, wie das Licht über dem bewegten Ocean?
Derrida, der französische Analytiker der Bedeutungsinstabilität, hätte hier lächelnd diagnostiziert: „Jesus liebt dich“ ist kein Satz, sondern eine Maschine der Verschiebung.
Erstens - „Jesus“ – wer soll das denn sein? Der Mann aus Galiläa? Der Logos? Der imaginierte Freund des Kindes? Der politische Mythos des Westens? Und dann - „Liebt“. Wie, womit, in welcher Temperatur? Und auch drittens dieses „Dich“ – wen meint es, wenn es mich meint?
Die drei Wörter des kleinen Satzes bilden keine Brücke, sondern sind drei Inseln, zwischen denen unaufhörlich Fähren verkehren. Jedes Mal, wenn einer diesen Satz ausspricht, wird eine andere Bucht angesteuert, ein anderer Ton angeschlagen, ein anderer Gott beschworen. Es ist so, als würde das Christentum selbst in diesen vier Silben atmen – und dabei zugleich stottern. Denn die Theologie hat den Satz mit so viel Dogmatik, Ethik und Geschichte überfrachtet, dass die ursprüngliche Bewegung – die zärtliche, ungesicherte – kaum noch zu hören ist.
Vielleicht ist „Jesus liebt dich“ ein Geräusch, das in die Welt entlassen wurde, um unaufhörlich von den richtigen Leuten falsch bzw. missverstanden zu werden. Man könnte sagen: Dieser Satz liebt seine Missverständnisse. Ja - er braucht sie, um lebendig zu bleiben. Jene unermüdlichen Prediger aus dem evangelikalen Raum, die den Satz noch immer auf Banner, an Autobahnrändern oder auf Tassen drucken lassen, sind die letzten Nomaden einer wandernden Formel. Und sie tragen ein Stück unbegreiflichen Übermuts in sich – den Glauben, dass ein göttliches Subjekt, das jenseits aller Grammatik wohnt, uns in der zweiten Person Singular ansprechen will. Doch der Schatten des Derridaschen Denkens steht hinter jedem dieser Plakate und flüstert: Es gibt keine Präsenz, nur Spur. Kein „Er liebt dich“, sondern ein „Es schreibt dich“.
Der Satz „Jesus liebt dich” schreibt sich selbst fort, von Zunge zu Ohr, von Ohr zu Erinnerung, von Erinnerung zu Mythos. Er hat keinen Inhalt, sondern ist ein Vorgang. Er wirkt – nicht weil er wahr wäre, sondern weil er weiterläuft. Vielleicht, so könnte man vermuten, ist „Jesus liebt dich“ das älteste psychotechnische Mantra des Abendlandes. Eine sprachliche Wärmekapsel, die inmitten der ausgebrochenen metaphysischen Kälte der Neuzeit überlebt hat. Ein kleiner Satz, der uns an das erinnert, was wir längst nicht mehr glauben können – und es dennoch brauchen.
Und doch, in all dem Flimmern der Bedeutungen, bleibt etwas zurück, das sich nicht auflösen lässt. So etwas wie der Erregungszyklus des Wortes. Vielleicht kann man mit dieser EKG-Metapher aus der Physiologie der Kardiologen etwas Wichtiges in die Theologie der Sprache hieven … ist nicht tatsächlich ein Herzschlag ist im Wortgeschehen vernehmbar?
Denn auch wenn die Philosophie recht hat und alle Sprache Spur ist – so ist die Spur doch von jemandem gelegt. Und wenn wir, inmitten der Verwindungen der Zeichen, das leise Wort „dich“ hören, dann ahnen wir, dass es nicht ins Leere gesprochen ist - sondern in je meine Richtung. Vielleicht liebt er mich tatsächlich – nicht im Sinne eines metaphysischen Besitzanspruchs, sondern als Ursprung eines nicht endenden Gemeint-Seins. „Jesus liebt dich“ – das könnte dann heißen: Du bist gemeint. Du bist nicht Zufall. Du bist getragen von einem Wort, das älter ist als die Welt und doch jeden Morgen neu ausgesprochen wird.
So bliebe am Ende ein paradoxes Wissen: Der kleine Satz „Jesus liebt dich”, den die Philosophie zerlegt, ist zugleich der Satz, der uns zusammenhält. Die Dekonstruktion zerbricht ihn – und findet im Scherbenbild der Bruchstücke einen Glanz, der in die Richtung wertvoller Ursprünge schimmert …


Autor:Matthias Schollmeyer |
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