Frida Kahlos Bilder
Malerei und Theologie

Die Frau sitzt im Morgenschatten der Agave. Oder ist es schon die Abenddämmerung? Ihre Hände halten das Huhn, als hielte sie zugleich das erste und das letzte Tier der Schöpfung. Hinter Frau und Huhn dehnt sich die mexikanische Landschaft wie ein brennendes Gleichnis aus. In der Ferne, dort wo die Sonne hinter dem Vulkan versunken ist oder gerade aufzugehen scheint, will das Gestein vom achten Schöpfungstag erzählen – von jenem Nichttag, der keinen Weg in die Schrift fand.

Ein Ei, das im Stroh liegt, ist kein Tierprodukte, es ist hohe metaphysische Geste. Miniaturmodell von Welten, die noch nicht geboren worden sind. Die Frau weiß das, ohne es zu wissen. Und sie setzt die Henne auf dieses Ei wie der Demiurg seine Hand einmal auf die brodelnden Sphären des Chaos gelegt hatte. Das Geflügel wird zum Medium einer kosmischen Brütung.

Wir wollen es so sagen: „Das Ei ist der Prototyp des Immunraums, der den Lebewesen erlaubt, sich gegen das Chaos der offenen Welt zu wappnen.“ Sobald die Schale bricht, bricht die Hölle los und der Kampf um’s nackte Überleben. Die Frau in der Landschaft versteht solche Sachen intuitiv. Ihr Blick sagt: Das Leben entsteht nicht im Sturm, sondern in der Hülle. Aber es endet im Sturm. Zwischenzeitlich wird die Kunst der Selbstbegrenzung dasjenige sein, was das Sein bewohnbar macht.

Die Agaven, die Kakteen, die dornigen Büsche — sie alle tragen denselben Gedanken in stacheliger Form: „Nur wer sich mit etwas umgibt, kann sich länger erhalten. Nur wer eine Haut hat, hat Bestand. Nur wer nach den inneren Räumen ausweichen kann, wird bleiben."

So wird die Szene zur theologischen Miniatur über die Vor-Inkarnation. Denn das Ei ist der Leib, bevor der Geist ihn zwingt, die Hülle zum Gefährlichen hin dann doch noch zu durchstoßen. Denn es geht nicht anders. Es kommt der Tag. Das Ei hat etwas Marienhaftes und ist das, was ist, bevor das Wort Fleisch ward. Und die Frau, die das Huhn auf das Nest setzt, ist – in dieser surrealen, kahloesken Topographie – eine Priesterin der Entstehung oder Avatarin der großen Ankündigung von Rätseln, die keine Lösung erlauben.

Das Huhn, dieses von unseren Alltagsköpfen so gern belächelte Tier, blickt nicht in die Sonne wie der Adler es tun muss. Und das Huhn weiß gewiss nichts von Kant, wenig von Heidegger, gar nichts vom „Warum überhaupt Seiendes und nicht vielmehr Nichts ist bzw. nicht ist“. Aber das Huhn schaut dich an. Es kennt den Wärmepunkt, jenen unsichtbaren Kreuzungspunkt von Körper und Kosmos. Du bist das. Es setzt sich auf das Nest der Welt und glaubt, dass aus dem Ei unter ihm Leben entschlüpft. Mehr zu wissen - ist es nötig?

Vielleicht ist das alles, was Theologie je hat sagen wollen: Dass nämlich das Göttliche in dieser bedrohten (weil vorübergehenden) Wärme aufscheint. Und dass mit dem Ei, bevor seine Schale zerbricht, bereits eine Art unhörbares Gebet in Richtung des Alleinguten bebrütet wird. Und dass die Frau, die Nest und Huhn und Ei still hält, unserer Welt eine sonderbar ernsthafte Zärtlichkeit lehrt, ohne die keine Schöpfung je gelang.

Die Sonne fährt dabei die ganze Zeit über den Himmel und macht die Schatten der Kakteen zu Zeigern einer Uhr, die nicht die Zeit misst, sondern das Maß des Lebens verändert. Und man hört da etwas in der Stille.  Die Stimme der Geduld ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

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