1.Sonntag nach Trinitatis
Johannesevangelium 5,39-47

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... Manchmal hat man das Gefühl, die Menschen wären dabei, ihre Welt dadurch zu verlieren, dass sie dieselbe eintauschten gegen ein „Buch ÜBER die Welt”. So viele Bücher gibt es, so viele Erklärungen. So viele Definitionen von Wahrheit – und darunter leidet die Wirklichkeit selbst, die in den Büchern beschrieben wird. Wir Menschen sind Leser geworden. Lesende Wesen, absonderlich in einer Gier, das Weltgeschehen in Buchstaben und Bilder zu bannen, um es besser ertragen zu können.

Jesus sagt: „Ihr sucht in den Schriften, denn ihr meint, ihr habt das ewige Leben darin.“ Und man könnte ergänzen: Ihr sucht in den Analysen, in den Kommentaren, in den Theorien, in den langen Fußnoten, in den Diagrammen, in den Stellungnahmen und Positionspapieren. Und ja: Ihr sucht auch in euren alten Dogmen, euren bürgerlichen Überzeugungen, euren klugen Büchern und Parteiprogrammen – und verpasst mich, obwohl ich da bin.
„Ihr sucht in den Schriften“, sagt Jesus. Er meint damit nicht die Bibelkundigen heutiger Konfirmandengenerationen, sondern die Vordenker, die Frühvollzieher des religiösen Verständnisses. Menschen, die glaubten, dass die Wirklichkeit dort wohnt, wo sie zuvor von ihrer Tradition verschriftlicht worden ist.

Es ist so, als hätten sie das Ticket für einen Fernreisezug gekauft – und nun besteht ihr weiteres Leben darin, dieses Ticket zu studieren, seine Ränder abzutasten, das Papier zu beschnuppern. Nur fahren wollen sie nicht. „Ich bin nicht in den Schriften”, sagt Jesus. „Die Schriften zeugen von mir. Aber sie sind nicht ich.”

Oder es ist so, als stünde jemand vor einem Fenster – und statt hinauszusehen, beginnt er damit, das Fensterglas mit Edding zu beschriften: „So ist die Welt!“, schreibt er. „So funktioniert Gott! So sind die Menschen!“ Und irgendwann ist so viel Text auf dem Glas, dass man nichts mehr sehen kann, was dahinter sich zeigen will. Diese Art Schrift ist das, was Peter Sloterdijk einmal „die Übersprungshandlung des Geistes” genannt hat: Die Schrift dient der Entlastung. Man liest, weil man nicht aushält, was ist. Man schreibt, weil man nicht erträgt, was fehlt. Man denkt – statt zu hören. Man strukturiert – statt zu glauben.

Und so gibt es zwei Möglichkeiten des Irrtums: Der eine liest sich dumm. Und der andere lebt, ohne je gelesen zu haben. Die einen verlieren sich im Abstrakten, weil es so schön geordnet ist. Und die anderen verrohen im Konkreten, weil ihnen jede Tiefenschicht fremd geworden ist. Dem gilt es zu entkommen!

Kardinal Ratzinger schreibt in einem seiner Bücher: „Ich habe neulich mit einer Frau gesprochen, die sagte, sie habe drei Jahre lang theologische Bücher gelesen, um endlich beten zu lernen. Und irgendwann – nach Karl Barth, Hans Küng und der feministischen Exegese Dorothe Sölles habe sie gemerkt: Ich bete gar nicht. Ich lese bloß darüber.”

Ein anderer Fall: Ein Mann, der in der Wirtschaftswelt steht. Er hat alle Ratgeber gelesen, die über Resilienz, mentale Gesundheit und Achtsamkeit schreiben. Jeden Morgen macht er nun exakt 17 Minuten Atemübungen, zählt dabei bis sieben, notiert anschließend seine Dankbarkeitsmomente – aber seine Frau sagt: „Der redet gar nicht mehr mit mir. Der ist nur noch im Konzept.”

Und dann gibt es, wie schon gesagt, auch jene - es sind wohl die meisten - die überhaupt keine Schriften kennen – die sich durch Netflix-Dialoge und Werbeanzeigen definieren lassen wollen. Auch sie verfehlen die Wirklichkeit. Denn sie kennen keine Tiefe, keine Quellen, keine innere Sprache, die auf etwas verweist, was größer ist als das eigene kurzlebige Wollen und Begehren.

Genau das ist das Drama, das Jesus hier beschreibt. Die einen verlieren sich in den Schriften. Die anderen verlieren sich, weil sie keine Schriften haben. Die einen zitieren Mose – aber sie erkennen nicht den, auf den Mose zeigt. Die anderen kennen nicht einmal mehr Mose. Und beide Gruppen stehen vor dem lebendigen Christus und sehen ihn nicht.

Jesus meint dazu: „Ihr wollt nicht zu mir kommen, dass ihr das Leben hättet.“ Er sagt nicht: „Ihr habt den Text falsch verstanden.” Sondern er sagt: „Ihr habt mich nicht gewollt. Das ist der Skandal: Nicht der Irrtum. Sondern der Unwille.”
Man hat das System – und will den Ursprung nicht. Man hat das Dogma – und will seinen Sinn und Ruf nicht hören. Man hat das Dokument – und meidet den Absender. Es ist wie bei jenen, die ständig Gesundheitsratgeber lesen, sich aber nie bewegen. Oder bei jenen, die Liebesromane verschlingen, aber unfähig sind, auch nur einem einzigen Menschen einen echten Brief zu schreiben. Oder bei denen, die den ganzen Tag Klimadiagramme und Ethikpapiere studieren und verkünden – aber dann im Winter die Heizung auf 26 Grad stellen.

Wissen ersetzt nicht Wahrnehmung. Und Struktur ersetzt nicht Beziehung. Vielleicht ist die größte Tragödie der Religion nicht der Zweifel an Gott, sondern das Missverständnis, das sich eingenistet hat wie Schimmel zwischen den Seiten heiliger Bücher. Man liest – aber ohne Berührung. Man zitiert – aber ohne Anrufung. Man predigt – aber ohne Erschütterung.

Was nun hat das für uns als Kirche für Konsequenzen? Es bedeutet jedenfalls nicht, dass wir die Schriften verachten sollen. Aber wir dürfen sie nicht verabsolutieren. Die Bibel ist nicht das Ziel. Sie ist die Spur. Die Spur zu dem, der spricht, berührt, heilt und ruft. Und wir dürfen auf keinen Fall das Dilemma vergessen, dass man sich dumm lesen kann. Dass man also mit voller vermeintlicher Klugheit in die Irre geht. Dass man das Leben studieren kann – ohne je zu leben.

Vielleicht müssten wir weniger systematisch denken und mehr hinhören. Weniger gliedern und mehr wahrnehmen. Weniger erklären wollen und mehr fragen lernen. Denn die, die meinen, sie hätten die Wahrheit verstanden, suchen oft nicht mehr die Wahrheit. Aber wer sucht, dem kann tatsächlich immer wieder neu begegnet werden.

Jesus steht vor den Schriftgelehrten und sagt: „Ihr wollt nicht zu mir kommen.“ Er sagt nicht: Ihr könnt nicht kommen. Er sagt: Ihr wollt nicht. Das ist ein hartes Wort …

Schauen wir also neu auf das, was die Schrift will: Nicht sich selbst verherrlichen, sondern auf den verweisen, der uns ansieht, uns ruft, uns kennt. Davon handelt die Heilige Schrift. Und lassen wir uns nicht täuschen – weder von gelehrten Systemen noch von schriftlosen Oberflächlichkeiten. Denn das Leben kommt nicht aus dem Buch. Aber in der lebendigen Begegnung mit dem Buch kommt es zu uns …

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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