Christliche Metaphysik
Im Zeitalter des Lärms

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
„Hier können Sie ihre Religion loswerden.“ Dieser Satz fiel - fast beiläufig - und wurde von einem Mann gesprochen, der nicht etwa an einer Universität Philosophie studiert hatte, aber jene seltene Schärfe des Geistes besitzt, mit der das Metaphysische ungehindert durch die Wolken aller philosophischen Begriffsungetüme bricht. Denn der Satz ist hochphilosophisch - existentialphilosophisch, wenn man so will. Der Satz wurde geprägt während der Wiedereinweihung einer kleinen Dorfkirche, die eben erst über lange Jahre mühsam und liebevoll restauriert worden war. Die Anwesenden hörten den Satz und lächelten versonnen, wie man das tut, wenn man etwas Großes hört, ohne es noch recht fassen zu können: "Hier können Sie ihre Religion loswerden".
Tatsächlich hat dieser Satz eine Sprengkraft, welche über die übliche Pfarrheimlogik hinausreicht. Religion loswerden – werden manche sich stirnrunzelnd fragen - das könnte ja heißen, endlich frei zu werden von der Last der eigenen oder fremdinduzierten Überzeugungen, von den einstudierten Zwangsgesten eines Glaubens, der ständig recht haben will? Oder ist damit etwa der Untergang der Religion gemeint! Nein - noch viel mehr ist gemeint. Bekanntlich ist das Christentum in seiner reifsten Gestalt tatsächlich der Ort, an dem Religion aufgehoben wird – im doppelten Sinn. Einerseits als bewahrt und andererseits als überstiegen. Karl Barth z.B. hat in diese Richtung zu denken versucht. Aber wie soll das gehen?
Es kann an dieser Stelle jetzt nicht um eine umfassende Analyse des schillernden Religionsbegriff gehen. Nur soviel: Der Mensch ist ein endliches Wesen, das von Unendlichkeit umstellt ist. Er lebt im Bewusstsein, dass er selber recht schnell vergeht, und zugleich ist da immer das Wissen, dass das, was ihn umgibt, nicht oder langsamer vergeht. Zwischen diesen beiden Polen – Endlichkeit und Unendlichkeit – spannt sich etwas aus, was wir „religiöses Feld” nennen dürfen. Und dieses Feld ist keine Option, kein Lifestyle, sondern eine unvermeidlich gegebene Spannung, die so alt ist wie der Schmerz über das unauslöschlich-kritische Bewusstsein selbst, mit dem der Mensch sich herumquält.
Das Christentum nun hat diese religiöse Spannung gezähmt, ja, in Formen gegossen. Aus dem rohen religiösen Verzweiflungsschrei des Menschen nach Erlösung aus dem Leiden an sich selbst, an Gott und der Welt wurde das Ganze einer Gedankenwelt geformt, die aufwändig gefeiert werden kann. Ein System mit goldenem Mythos, in welchem Dogma und Dichtung heilige Ehe zelebrierten. Die Religion war im laufe der Jahrtausende zur Gestalt einer sichtbaren Architektur des Ewigen im Zeitlichen geworden. Und das Sakrament – die Idee, dass sich das Unendliche in der Materie mitteilt – war der größte Wurf aller Zeiten.
Doch dann gewann auch der kritische Geist an Boden und schließlich die Überhand. Er zerlegte die Formen, prüfte ihren Gehalt, fand das Künstliche, wagte den Abschied von allem, was er nun als „Konstruktion“ erkannt haben wollte. Ja - das war sicher notwendig. Aber der Kritiker vergaß im Rausch seiner wachsenden Erkenntnis, dass auch die Dekonstruktion nur eine Religion ist, freilich mit weniger Stil und ohne Geschmack. Wer das Ewige zu entlarven meint und ausschafft, wird gezwungen, an dessen Stelle sofort ein neues oder anderes zu setzen. Und sei es nur das Nichts. Der Mensch kann gar nicht „nicht glauben”; er verschiebt nur die Altäre aus dem Hintergrund in den Vordergrund und umgekehrt.
So kam es, dass an die Stelle des eucharistischen Altars nun die Klima-Tische traten, an denen das schlechte Gewissen weiter geschult und nicht weniger geopfert wird als vorher. An die Stelle der Beichte trat das fortwährende Schuldbekenntnis in den sozialen Medien, den Feuilletons und das Mittun etwa bei den „Omas gegen Rechts”. An die Stelle des Heiligen Geistes die Regietheater und gebrüllten Emotionn als politischer Treibstoff. Das Christentum der ruhigen und beruhigenden Tugenden und Schauungen wurde ersetzt durch ein hartnäckiges Insistieren auf unbeschränkte Rechte, die jedem neue Katechismen aufzwingen - deren Lehrsätze in Flyern und Programmschriften an Laternen und Hauswände zu lesen sind.
So kamen die neuen Götter. Und sie sind moralisch, aber nicht mehr heilig. Sie dulden keine Ironie oder fordern sie bis unter die Schamgrenze. Sie dulden keinen Zweifel - oder zwingen ihn uns auf. Sie kennen keine Kreistänze mehr - oder echauffieren sich ständig in nie endender Rastlosigkeit auf Demonstrationen für dies oder das. Sie wollen nicht verherrlicht, sondern administriert werden - was dasselbe bedeutet. Ihre Priester stehen als Korrespondenten an jeder Ecke der Welt und verteilt bis hinaus zu den hintersten Winkeln pochender Urwälder. Ihre Mikrofone tragen die Abkürzungsbuchstaben der öffentlich rechtlichen Sendeanstalten. Der Übergang von der alten Kirche zur neuen Quasikirche eines ununterbrochen kämpferischen Aktionismus zeigt sich mit ihren "Ersatzliturgien des Guten" während staatlich subventionierter Demonstrationen auf Straßen und Plätzen. Der Moment, in dem die Religion nicht mehr Medium des Transzendenten bleibt, sondern Bühne des Moralischen wird, mutet immer sonderbar an.
Die Form religiöser Darstellung musste ja bleiben – denn das Bedürfnis nach Ritus, Gemeinschaft, Sendung bleibt bei den Leuten ungebrochen – aber der Inhalt kippt unaufhaltbar ins Banale - nicht zuletzt auch deshalb, weil der Weihrauch des Numinosen fehlt. Der moralische Aktivismus hat zwar die religiöse Form okkupiert, aber ohne deren Substanz tragen zu können. Der Mensch, der sich trillerpfeifend, fahnenschwenkend und nicht selten törichte Sprechchöre skandierend als Schöpfer eigener Heiligkeit da draußen aufspielt, fällt in den allermeisten Fällen recht unangenehm auf. So etwas möchte man eigentlich nicht betrachten müssen. Wird man dort die Religion los? Vielleicht ist gerade das Gegenteil der Fall. Man belastet sich und andere.
„Gehet hin im Frieden des Herrn!” lautet am Ziel der Gottesdienst das Wort der Liturgie. Wie aber lautet der Wunsch der Anführer*Innen von Demonstrationen? Die Friedlosigkeit derer, die in der Kirche keine geistlich/geistige Heimat mehr zu finden vermögen, ist nirgendwo besser hörbar gemacht worden als in Alexander Zemlinskys LYRISCHER SINFONIE, die einen entsprechenden Text des Inders Rabindranath Tagores in Töne gesetzt hat. Während in den Worten des Dichters aber die Sehnsucht nach dem Unendlichen in ästhetisch kaum mehr zu überbietende musikalisch-textliche Höhen geführt worden ist, wälzte die Sehnsucht nach Unerfüllbarem sich während politisch-aktivistischer Events auf den Straßen seit jeher nur mühsam am Rinnsteinen entlang:
„Ich bin friedlos, ich bin durstig nach fernen Dingen.
Meine Seele schweift in Sehnsucht,
Den Saum der dunklen Weite zu berühren.
O großes Jenseits, o ungestümes Rufen deiner Flöte.
Ich vergesse, ich vergesse immer,
Daß ich keine Schwingen zum Fliegen habe,
Daß ich an dieses Stück Erde gefesselt bin
Für alle Zeit.Ich bin voll Verlangen und wachsam,
Ich bin ein Fremder im fremden Land;
Dein Odem kommt zu mir
Und raunt mir unmögliche Hoffnungen zu.
Deine Sprache klingt meinem Herzen vertraut
Wie seine eig'ne.
O Ziel in Fernen, o ungestümes Rufen deiner Flöte.
Ich vergesse immer, ich vergesse,
Daß ich nicht den Weg weiß,
Daß ich das beschwingte Roß nicht habe.Ich bin ruhlos, ich bin ein Wanderer in meinem Herzen.
Im sonnigen Nebel der zögernden Stunden
Welch gewaltiges Gesicht von dir wird Gestalt
In der Bläue des Himmels.
O fernstes Ende, o ungestümes Rufen deiner Flöte.
Ich vergesse, ich vergesse immer,
Daß die Türen überall verschlossen sind in dem Hause,
Wo ich einsam wohne.”
>> LINK zur Lyrischen Symphonie<< Text: Rabindranat Tagore / Musik: Alexander Zemlinsky
Damals - in der kleinen mitteldeutschen Dorfkirche - war der Satz gefallen: „Hier können die Leute ihre Religion loswerden.“ Gemeint war: Hier darf der Mensch endlich aufhören, sich selbst erlösen zu wollen. Die Ratslosigkeit nach Ewigkeit ist gestillt. Niemand muss den Himmel auf die Erde herab zerren. Man darf aufschauen zu ihm. Religiös sein heißt lernen - ganz ausatmen zu können. In der Kirche darf jeder stehen, nicht als moralisch/politisches oder ökologisches Projekt, sondern einfach als Geschöpf, das weiß, dass es nicht Gott ist und auch nie werden muss, nie suchen muss, sondern von Gott gefunden worden ist.
Das ist auch die Zukunft der Kirche. Nicht mehr religiös sein zu müssen im Sinne rastloser Zukunftsplanerei und Selbstverbesserungszwang. Kirche - der Raum, in dem der Mensch die Überforderung aller Denksysteme ablegen darf, um sich der Unendlichkeit vertrauend zu überlassen. Alle, die in diesem Sinne ihre Religion losgeworden sind – glücklich seid ihr zu nennen.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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