von der Kraft
eines einzigen Wortes

Es gibt Familien, die durch eine merkwürdige Aura von Legenden umschattet sind – als hätten sie die Jahrhunderte hindurch das Echo einer Botschaft tragen müssen, deren Klang heute niemand mehr recht zu deuten weiß. Zu diesen Familien gehörten die Perlsteins, deren Name wie ein geheimer Schmuck klingt, als bestünde er nicht nur aus Silben, sondern aus Gold, Perlmutt in einen Hauch von Ewigkeit gefasst.

Von Adrian Siegismund Perlstein ist zu berichten, dass er, wie schon sein Großvater und dessen Urururgroßahn, Kantor in Wilna war – eine Stimme, die Sabbat für Sabbat das Unsichtbare zum Schwingen brachte, so dass die Mauern des Bethauses in der Abendsonne vibrierten. Er selbst sprach nie von seinen näheren Umständen. Aber jene, die ihn kannten, erzählten leise von einem Besitz, der die Familie umrankte wie ein Mythos: eine kleine goldene Schatulle, mit Perlen besetzt, deren Glanz nicht von dieser Welt zu sein schien.

Über die Schatulle wusste man Folgendes: In ihr lag ein Pergament, und auf diesem Pergament stand ein Wort – ein einziges Wort, aus sieben Buchstaben geformt. Niemand hatte es je gesehen. Niemand wagte, den Deckel zu öffnen, als liege darin eine kleine Sonne, deren Strahlen den Geist zertrennen könnten. Es hieß, wer dieses eine Wort lese, vergäße alle anderen Worte, verstummte gegenüber den Sprachen dieser Welt und erkennte nur noch dieses eine. So vollkommen, so unerbittlich war dessen Wahrheit, dass jeder, der es erblicke, von der Welt, wie wir sie kennen, hinweggetan würde – als wäre das Leben nur ein dürftiger Traum, der sich mit diesem Wort von selbst auflöst.

Die Legende sagte weiter, das Wort könne zur furchtbaren Waffe werden. Ein Gedanke, so grausam wie verführerisch. Denn was, wenn ein böser Mensch – oder Satan vielleicht sogar selbst in eigener Person – den Zettel an sich risse, ihn tausendfach vervielfältigte, und dann, aus dem Bauch eines Flugzeugs, die Zettelchen über die Erde stäubte? Der Mensch, immer wissbegierig, immer nach dem letzten Geheimnis gierig, würde die Zettel aufheben wie das Manna, das einst den Hunger Israels stillte. Und sobald einer das Wort läse, würde er alles andere vergessen. Keine Muttersprache, kein Gebet, kein Gelöbnis, kein Liebeswort – nur noch dieses eine, schrecklich wahre Wort. Und so, sagte die Legende, würde die Welt nicht mehr von Menschen bewohnt sein, sondern von Blicken, leer und glänzend, gebannt von dem Klang, den keiner mehr auszusprechen könne. Weil - man war hinweggetan von der Erde …

Adrian Siegismund Perlstein war der letzte seiner Familie. Kein Bruder, kein Kind, kein Enkel, niemand, dem er die Schatulle hätte verlässlich anvertrauen können. Und nun, im hohen Alter von 103 Jahren, als das Licht seiner Tage schon wie dünnes Papier knisterte, saß er eines Abends allein. Das Haus war still, der Atem der Welt schien sich anzuhalten. Es war Sabbatvorabend, und in der Ferne sang eine letzte Amsel gegen das hereinbrechende Dunkel an.

Da nahm er die Schatulle. Wie sie in seinen Händen lag, fühlte er plötzlich die Schwere der Jahrhunderte, den Widerhall des Schweigens all jener der Stimmen, welche das Kleinod nicht hatten öffnen wollen. Aber das Zeitalter des Zögerns war nun vorbei. Er - Adrian Siegismund Perlstein - entzündete ein kleines Feuer in einer eisernen Schale, so wie man es tat, wenn man etwas opfert, das zugleich kostbar und gefährlich ist.

Dann öffnete er den Deckel. Das Pergament, klein, beinahe unscheinbar, lag darin, als warte es seit Ewigkeit auf diesen Moment. Mit zitternden Fingern entfaltete er diese alte Tierhaut. Und las. Das Wort – sieben Buchstaben, aufgesetzt von einem Licht, das nicht aus dieser Welt kam.

Man kann nicht sagen, was in diesem Moment geschah. Nur so viel: Er lächelte. Nicht das Lächeln eines Menschen, der etwas Lustiges hört, sondern das stille, weite Lächeln dessen, der endlich gefunden hat, was ihn von allem Leid befreit. Er tat das Pergament in das Feuer, und der Rauch, von einem süßlich-klaren Duft, stieg auf, als wolle er das Wort heimtragen in jene Sphären, aus denen es einst gekommen war.

Am Morgen fand man Perlstein – oder, wie einige sagten, das Gehäuse seines Lebens. In einem Sessel lehnend, die Augen weit geöffnet, als schaue man noch immer in jene Ferne, die wir Zurückgebliebenen nicht sehen können. Die rechte Hand - sie ruhte auf der Lehne des Sessels - wies, fast spielerisch, wie bei antiken Statuen, auf einen Punkt. Weit, sehr weit dort draußen musste es diesen einen Punkt geben. Manche behaupten, sie hätten das Gefühl gehabt, Perlstein zeige in ein Reich, das ganz nah sei – gleich hinter der dünnen Haut dieser Welt.

Seither ist die Schatulle leer. Das Wort lebt nun in der Schwebe seines Rauches, in jenem Blick, mit dem Adrian Siegismund Perlstein für immer lächelt und in seiner Geschichte, die wir hier erzählt haben wollten ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

Sie möchten diesem Profil folgen?

Verpassen Sie nicht die neuesten Inhalte von diesem Profil: Melden Sie sich an, um neuen Inhalten von Profilen und Orten in Ihrem persönlichen Feed zu folgen.

20 folgen diesem Profil

Sie möchten kommentieren?

Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.

Video einbetten

Es können nur einzelne Videos der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Playlists, Streams oder Übersichtsseiten.

Abbrechen

Karte einbetten

Abbrechen

Social-Media Link einfügen

Es können nur einzelne Beiträge der jeweiligen Plattformen eingebunden werden, nicht jedoch Übersichtsseiten.

Abbrechen

Code einbetten

Funktionalität des eingebetteten Codes ohne Gewähr. Bitte Einbettungen für Video, Social, Link und Maps mit dem vom System vorgesehenen Einbettungsfuntkionen vornehmen.
Abbrechen

Beitrag oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Schnappschuss einbetten

Abbrechen

Veranstaltung oder Bildergalerie einbetten

Abbrechen

Sie möchten selbst beitragen?

Melden Sie sich jetzt kostenlos an, um selbst mit eigenen Inhalten beizutragen.