VIERFACHER SCHRIFTSINN
AM TEICH BETHESDA
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Man sagt, es gäbe Leser, die nur die Oberfläche der Schrift sehen – wie Spaziergänger etwa, die an einem See entlanglaufen, ohne hineinzuschauen. Es gibt aber auch jene Leser, welche ahnen, dass unter der Oberfläche noch etwas glitzert; und sie beginnen damit, im Text zu tauchen. Lesen wäre demnach durchaus auch als Hochleistungssport zu betrachten.
Die Theologen des Mittelalters fanden für solche Kunst mehrdimensionalen Lesens einen Fachbegriff und nannten es den „Vierfachen Schriftsinn”. Es war ihr Versuch die Bibel zu lesen, als wäre sie nicht nur irgend ein beliebiges Papierbuch, sondern ein Universum aus Bedeutungsebenen – ein Kosmos aus 1. Historizität, 2. Symbolkraft, 3. ethischem Gewissen und 4. mystagogischem Geheimnis.
Wenn man sich die Bibel auf diese Weise vornimmt, lässt sie uns zuerst die einfache journalistische Ebene finden. Das ist der Bericht, das Ereignis für den Menschen, der die Buchstaben kennt und zu grammatisch sinnvollen Sätzen zusammensetzen kann. Es gibt aber nicht nur diese Ebene, auf der wir mit Hilfe der Buchstaben lesend etwas lernen, sondern da sind noch drei weitere Bewegungen des Verstehens. Auf einer zweiten Ebene verwandelt sich das gelesene Faktische in ein Symbol. Die Heilung am Teich Bethesda zum Beispiel (Johannes 5,1-14) wird zu einem weiterführenden Schlüssel für das Portal - jenseits dessen sich die Welt fabelhafter Ähnlichkeiten auftut. Drittens redeten die Alten noch vom moralischen Sinn – das, was mich selber ethisch unbedingt angeht, ist damit gemeint. Was soll ich nun tun, wie verändert es mein Leben, meine Haltung, meine Lebenspraxis? Und viertens legte man ganz besonderen Wert auf den anagogischen Sinn – das, was über mich hinausweist. Gemeint ist die große, leise Ahnung, dass ich einer Bewegung Gottes angehöre, die sich auch in mir vollenden will und wird.
Der Vierfache Schriftsinn ist also mitnichten nur irgendein typisch theologischer Firlefanz, sondern ein Trainingsplan für den denkenden Menschen – eine frühe Form von Bewusstseinsgymnastik und ein antikes Fitnessstudio des Nachsinnens. Noch einmal: Der Literalsinn ist das Sehen, der Allegorische Sinn das Deuten des Gesehenen, der moralische Sinn betrifft das eigene Handeln, und der anagogische Sinn ein Schauen hinter alles Schauen. Wer Texte auf diese Weise liest, der merkt: Ein Text wie der vom Teich Bethesda aus Johannes 5 ist kein mirakulöser Bericht über ein angeblich geschehenes Kunststückchen, von deren Art es in der spätantiken Literatur zehntausende gibt, sondern ein Spiegel, in dem ein und dasselbe Licht für je mich in vier Dimensionen gebrochen wird.
I. Der Literalsinn – Die Begegnung an dem Teich Bethesda (Johannes 5,1ff)
Der Evangelist Johannes erzählt von einem Kranken, der seit achtunddreißig Jahren am Rand des Teiches Bethesda liegt. Dieser Ort – archäologisch bezeugt – war ein Sammelplatz der Hoffnungslosen, Menschen, die auf Bewegung im Wasser warteten, weil sie glaubten, dass ein Engel es zuweilen berühre und damit heilende Kraft in ihm wecke.
Zunächst geschieht nichts Außergewöhnliches. Jesus tritt herzu, sieht den Mann und spricht ihn an: „Willst du gesund werden?“ Das ist der schlichte, historische Rahmen. Er beschreibt eine reale Begegnung zwischen dem Wort Gottes, das in Christus Mensch geworden ist, und einem Menschen, dessen Leben vor der Zeit zum Stillstand gekommen ist. Die Geschichte verweilt in äußerster Einfachheit. Kein Zauber, kein Spektakel – nur das Wort, das die starre Situation beendet und in Bewegung setzt. Das ist der erste Sinn: die Geschichte eines Kranken, dem Heil widerfährt, weil er angesprochen wird.
II. Der Allegorische Sinn – Das Wasser als Bild der Gnade
Im Glauben Israels ist das Wasser immer mehr als nur eines der stofflichen Elemente. Es ist Urbild des Lebens und der Reinigung, Symbol des göttlichen Handelns in der Schöpfung und zugleich Mittel vernichtender Gefahr (Schilfmeer, Nil, Sintflut). Das Aufwallen des Wassers in Bethesda wird zur Vorahnung der Sakramente betrachtet werden können, besonders im Blick auf die Taufe. Nicht das Wasser selbst besitzt allerdings die Kraft zu heilen, sondern göttlich berührtes Wasser, das durch die geschehene Zeichnung (Engel) wirkt.
Wenn dieser Engel – wie der Text andeutet – das Wasser mit dem Finger berührt, ist das eine Veranschaulichung jener göttlichen Nähe, die nicht zerstört, sondern bewegt. Vielleicht ist es kein Zufall, dass die christliche Kunst später den „Ringfinger“ als den Finger des Bundes betrachtete: jener Finger, an dem der Mensch den Ring trägt, das Zeichen seiner Bindung und Treue. So wird die Berührung des Engels zum Zeichen jenes Bundes, in dem Gott sich dem Menschen verbindlich zuwendet. Das Wasser ist in diesem Sinn die Welt kurz vor der Sintflut, die von Gott berührt wird – und deshalb nicht sich selbst überlassen bleibt, sondern bis in ihre Tiefe gereinigt wird.
III. Der sensus moralis – Die Aufforderung des Wortes
Jesu Wort an den Gelähmten ist kurz und schlicht: „Steh auf, nimm dein Bett und geh!“ In diesen drei Imperativen liegt die ganze Dynamik des Glaubens: Glaube bedeutet, sich ansprechen zu lassen und aufzustehen. Nicht ist zuerst eine Handlung zu vollbringen, sondern auf das Wort hin zu leben gälte es.
Der Mensch wird heil, indem er sich dem Wort anvertraut, das ihn ruft. Das „Bett“ steht für das, was ihn gebunden hielt – seine Vergangenheit, seine Gewohnheiten, vielleicht auch seine Bitterkeit. Er soll sie nicht leugnen, sondern aufheben und mitnehmen: das eigene Leben als Erinnerung und Aufgabe zugleich. Christus heilt, indem er dem Menschen Selbstverantwortung zurückgibt. So wird das Wunder zu einem moralischen Gleichnis: Erlösung ist das Erwachen der Freiheit im Angesprochenen-Werden.
IV. Der Anagogische Sinn – Das Zeichen des endgültigen Heils
Diese Geschichte weist über sich hinaus. Bethesda ist ein Bild für die Welt:
ein Ort, an dem Leid und Hoffnung sich berühren, an dem die Zeit selbst wartet, dass Gott sie bewegt. Der Engel, der das Wasser berührt, ist eine Gestalt der göttlichen Gegenwart in der Geschichte – jenes leisen, unaufdringlichen Handelns, das nicht zwingen, sondern öffnen will.
Wenn Christus selbst diesen Ort besucht, erfüllt sich, was das Bild verhieß. Er selbst ist die Bewegung Gottes in die tiefen Abgründe der Schöpfung hinein, an deren wunden Rändern wir alle lagern. Der Ringfinger des Engels wird so zum Symbol der inkarnierten Liebe, die die Welt nicht von außen rettet, sondern sie von innen her erneuert. Das Wasser, das einst still lag, ist die Zeit – und sie wird lebendig, wo Gottes Ewigkeit sie berührt.
Im anagogischen Sinn spricht die Geschichte von der letzten Vollendung: Der Mensch wird einst ganz heil sein, wenn alle Stillstände, alles Warten und Leiden von der Bewegung Gottes ergriffen sein werden. Bethesda wird zum Bild des neuen Himmels und der neuen Erde – der Ort, an dem das göttliche Wort alles Wasser der Zeit in das Meer des Lebens zurückführt.
Nachklang
Freilich - es zeigt sich, wie die Erzählung vom Teich Bethesda in ihren vier Schichten ein und dieselbe Wahrheit meinen: Gott begegnet dem Menschen nicht im Lärm des Außergewöhnlichen, sondern in der Berührung, die das Wort schenkt. Das Wunder ist also nicht so sehr die Durchbrechung der Natur, die der Mensch sich staunend immer herbeisehnt, sondern die Veränderung der leidenden Natur kraft des Wortes Gottes.
Der Ringfinger des Engels erinnert daran, dass diese Treue kein abstrakter Begriff ist, sondern Beziehung – Bund. Wer in diesem Bund lebt, erkennt: Das Wasser, das sich bewegen soll, ist das eigene Herz. Und jeder Aufbruch im Glauben ist eine kleine Auferstehung.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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