25. Oktober 1671 - Entdeckung
des Saturnmondes und Titanen Iapetus

Die Entdeckung des Iapetus
Giovanni Domenico Cassini legte am Abend des 25.Oktober des Jahres 1671 das Fernrohr aus der Hand. Und seine Finger zitterten. Er hatte etwas gesehen, das keiner vor ihm gesehen hatte. Einen winzigen Lichtpunkt, fern und still, tanzend um den Saturn wie ein geduldiger Diener um einen müden König. Cassini lächelte. Ganz Paris schlief bereits und nur er selbst und das Glas seines Okulars wussten, was da eben entdeckt worden war.

Ja - er würde ihn Iapetus nennen. Dieser Name kam wie von selbst, als hätte er sich unmittelbar aus der Dunkelheit gehoben, nicht erfunden, sondern geschenkt. Iapetus – der Titan, Sohn von Uranus und Gaia, Vater von Atlas und Prometheus, der aus dem Tartarus fiel wie ein Gedanke aus Gottes Stirn. Name für einen Mond, der halb Licht, halb Finsternis war.

Cassini setzte sich an sein Pult. Die Feder kratzt über das Papier, zögerlich zuerst, dann entschlossener. Und er schrieb, als wüsste er nicht mehr genau, ob er einen Bericht oder ein Evangelium verfasste:

„Iapetus erinnerte sich nicht mehr an den ersten Schlag. Nur an den zweiten, den, der traf. Der den Himmel teilte. Damals, als Kronos das Messer führte und die Sterne sich duckten. Da lag Iapetus im Staub der gefallenen Titanen und wusste: das war das Ende einer Zeit, die nie hätte beginnen sollen.

Die Jahrtausende im Tartarus waren kein Traum. Sie waren eine Art Schlaf ohne Dunkelheit, eine starre Klarheit, die ihn an die Grenze des Wahns brachte. Ringsum das Gewicht der Schuld, schwerer als Stein. Er hörte Prometheus schreien, Atlas keuchen, Menoetius fluchen. Und er schwieg. Das war seine Tugend. Das Schweigen.

Dann kam jener, den keiner erwartete. Kein Blitz, kein Donner, kein flammender Streitwagen. Nur Stille, und in der Stille Schritte. Christus stieg herab, am Tag zwischen den Tagen. Karsamstag. Der Schatten des Kreuzes war noch warm.

Er kam nicht, um zu richten. Er kam, um aufzubrechen. Adam stand da, mit leeren Händen. Eva hinter ihm, bar jeder Schuld und doch die ganze Menschheit tragend. Und zwischen ihnen der Nazarener, dessen Augen Iapetus nicht aushielt. Denn dort war etwas, das kein Titan verstand – Gnade.

„Steh auf“, sagte Christus. „Deine Stärke soll nicht mehr Last sein, sondern Bahn.“

Iapetus hob den Kopf. „Und wozu?“ fragte er.

„Du wirst kreisen,“ sagte Christus. „Nicht mehr als Wächter des Westens, nicht mehr als Gefangener des Tartarus. Du wirst den Saturn umkreisen, der einst Kronos war. Du wirst ihn umschatten, erinnern, mahnen. Und wenn du zürnst, zürne leise. Die Menschen sollen es nur als Hagel hören.“

Er verstand nicht alles. Aber er nickte. Das war seine zweite Tugend. Nicken, auch wenn man nicht versteht.

So wurde er hinausgeschleudert, durch das Schweigen des Alls, in Bahnen, die kein Titan je kannte. Er fror, er glühte, er trug sein altes Feuer im Eis. Auf seiner einen Seite lag Dunkel, auf der anderen Licht. Das war der Rest der Sünde, dachte er. Und er trug sie wie den Panzer einer Rüstung.

Manchmal knirschte er mit den Zähnen. Das war keine Rebellion, nur Erinnerung. Dann bebte sein ganzer Leib, und über den fernen Erden hagelte es. Die Menschen schauten hinauf und fluchten über das Wetter. Sie ahnten nichts von dem Alten, der da oben die Zähne aufeinanderbiss, weil er die Stille schwer ertrug.

Aber Christus, der wusste es. Und wenn der Hagel fiel, lächelte er. Denn er kannte die Treue derer, die zähneknirschend gehorchen. So zieht Iapetus weiter, kalt und gehorsam. Ein Titan auf Umlaufbahn, zwischen Gnade und Pflicht. Und jedes Mal, wenn er den Schatten des Saturn streift, erinnert er sich an jene Stimme, die ihn rief – leise, ohne Donner, ohne Machtgeste, nur mit einem Satz, der alle Ewigkeiten öffnete: „Steh auf, Iapetus. Auch Titanen dürfen erlöst werden.“

Cassini legte die Feder nieder. Er saß still, die Augen brannten. Der Docht seiner Lampe zitterte. Draußen war die Nacht klar, und über der Stadt hing Saturn, schwer und ruhig, von einem winzigen Ring aus Licht umspannt. Und daneben, kaum sichtbar, ein noch winzigerer Punkt, den bisher nur sein Entdecker kannte. Und Christus.

Cassini trat ans Fenster, blinzelte, bis ihm die Tränen kamen. Dann schloss er die Augen. Er war Astronom, und er glaubte an den Herrn. Er wusste, dass Gott auch in der Mechanik wohnt. Dann faltete der Alte die Hände und sprach sein Nachtgebet:

„Herr, du hast die Titanen in Bahnen gezwungen und den Himmel in Ordnung gebracht. Lass mich sehen, was du siehst, und verstehen, was du verschweigst. Und wenn ich irre, dann geschieht auch das im Licht deiner Sterne.“

Jetzt löschte er die Lampe, legte sich aufs Lager, und ehe der Schlaf ihn dahin nahm, sah er in einem Traum den Titanen Iapetus um Saturn kreisen, gehorsam und trotzig zugleich – von der Erde aus ein kleiner Mond. Aber in Wirklichkeit ein tägliches Schicksal.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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