die Silberpappel
Leberecht Gottlieb (Teil 135)

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Kapitel 135, in welchem wir erfahren, dass ein ukrainischer Intellektueller (der Dichter Danyyil Abramovych) sich an Leberecht Gottlieb zu hängen beginnt, die beiden ein Herz und eine Seele werden, Geschichten von diesem oder jenem zu erfinden beginnen - und die schwere Zeit der Verbannung deshalb besser meistern zu können meinen ...
In den täglichen Werkpausen, welche man den untertags schuftenden Strafgefangenen, damit deren Arbeitskraft leidlich erhalten blieb, regelmäßig gönnen musste, setzen die beklagenswerten Männer sich im Kreise nieder, tranken etwas von dem Wasser, welches sie in Blechflaschen mit sich führten und verzehrten ein wenig von dem trockenen Brote, dass sie am Morgen erhalten hatten. Das Wichtigste aber waren für alle jene Geschichten, die Danyyil Abramovych zum Besten gab. Denn es waren heilige Geschichten, das waren Predigten ohne viel Ermahnung, aber um so mehr mit weitreichendem Sinn. Leberecht staunte über diese Geschichten, die Abramovych scheinbar aus dem Nichts erfand, extemporierte und druckreif in ruhigem Ton erzählend darbot. Heute am 14.Dezember des Jahres 2025 war diese Geschichte ein Lehrstück über Berufung, Demut und das göttliche Erwähltwerden. Danyyil Abramovych begann folgendermaßen:
„Die Weißpappel und die Eiche. Eine Legende vom Holz des Kreuzes. Es wird erzählt, dass in jenen Tagen, da der Menschensohn das Holz des Kreuzes würde bald auf seine Schultern nehmen müssen, sich Folgendes zutrug. Die Eiche war alt, stark und ehrwürdig. In ihr wohnten viele Vögel, ihre Äste trugen das Gedächtnis von Jahrtausenden. ‚Ich bin die Königin unter den Bäumen‘, sprach sie. ‚Und wenn ein König gekreuzigt werden wird – wie die Schrift der vergänglichen Menschenkinder es beschwören will –, dann wird es auf meinem Holze geschehen.‘
Die Weißpappel schwieg. Sie stand am Rand der Lichtung, nicht groß, nicht mächtig, aber von einem Glanz, der nicht von dieser Welt war. Ihre Blätter schimmerten grün, aber auf der Rückseite silbern, als spiegelten sie das Licht der Nacht im Hauche der Unterwelt. Die Menschen aber achteten die Weißpappel wenig, denn sie war zu biegsam für Balken, zu weich für Waffen und Werkzeug.
Ein Engel Gottes ging unter den Bäumen umher. Mit einer Stimme, die zugleich leise war wie Wind und gewaltig wie ein Schwert, sagt der Engel: ‚Nicht nur du, Eiche, bist erwählt, sondern auch du, Weißpappel. Du wirst das Holz der Darstellung werden. Nicht des einen Marterkreuzes selbst, sondern zahlloser Kreuze, die Menschen sich vor Augen stellen.‘
Da zürnte die Eiche und rauschte. ‚Was hat sie, was ich nicht habe?‘ Und der Engel antwortete: „Sie hat die Rückseite von allem gesehen. Sie weiß um die Tiefe, in der sich das Licht verbirgt. Ihre Blätter tragen zwei Farben: Oben das sichtbare Grün, unten das Verborgene. Sie ist der Baum der Zweiheit – und darum fähig, Geheimnisse zu tragen.‘
Und so geschah es auch: Das wahre Kreuz wurde aus dem Holz der Eiche gezimmert. Doch die Kreuze der Altäre, der Ikonen, der Kirchen, der Stuben und Spitäler – unzählige von ihnen wurden aus Weißpappel geschnitzt. Weil sie leicht ist, biegsam, geduldig. Und weil ihre Blätter das große Rätsel verkörpern: Wie das Obere vom Untere nicht getrennt bleiben darf. Dass das Sichtbare auf das Unsichtbare hin geöffnet werden muss. Und in der Schwachheit des Holzes die Schönheit der Wahrheit gut wohnen kann.”
Und Danyyil Abramovych schloss seine Geschichte mit den Worten: „So also wurde die Weißpappel der Baum der Darstellung. Auf dem Holz der Eiche vollzog sich das blutige Martyrium des Gottessohnes, mit dem Holz der Silberpappel die Erinnerung an seinen ewigen Sinn. Vielfach ist das, was man Erwählung nennt. Niemals war sie Herrschaft, immer war sie Dienst. So wurde auch das unscheinbare Holz der Weißpappel nicht erhöht, weil es stark war, sondern weil es bereit war, sich gebrauchen zu lassen. Ihre Zweifarbigkeit – oben grün, unten silbern – gleicht der zweifachen Natur Christi: Wahrer Gott und wahrer Mensch. Wie die Pappel im Wind flüstert, so spricht die Offenbarung in leisen Zeichen.”
Und schon nahten sich die Aufseher. Sie beendeten die kurze Pause der Gefangenen. Diese verstreuten sich in die einzelnen Stollen, aus denen bald das Geräusch der Hämmer und Meißel zu hören war.
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