13. August 1946 / 13. August 1961
H.G. Wells und die Mauern der Zeit

Mauern und Maschinen: H. G. Wells - ein Zeitsprung in den Kommunismus und darüber hinaus
Es ist ein seltsamer Zufall, dass sich an einem 13. August die Biographien zweier ganz verschiedener Architekten der Zeit verflechten. Gemeint sind der Architekt imaginärer Chronomaschinen H. G. Wells (+13. August 1946), und die unfreiwilligen Architekten der realen Mauer in Ostberlin August 1961. Auf unterschiedlichen  Bühnen hat man versucht, dasselbe Material zu bewegen. Die Zeit.

Als Sohn eines Eisenwarenhändlers war Herbert George Wells Bürger der späten viktorianischen Zivilisation - und gab der literarischen Imagination eine neue Achse. Nicht mehr nur das "Was", nicht mehr nur das "Wo", sondern nunmehr auch immer mehr das "Wann" begann eine Rolle zu spielen. Mit „Time Machine“, einem Roman, der auch verfilmt wurde, ist das Leben in der Zeit zur begehbaren Landschaft mutiert, zum kontrollierbaren Relief, durch das man, wie ein Tourist der Epochen, hin- und zurückreisen konnte. Damit verschob Wells den Horizont des Denkbaren – nicht in den Himmel, nicht ins Innere der Materie, sondern in jene vierte Dimension, die den anderen drei Dimensionen erst ihre Koordinaten gibt - die Zeit. Dabei zeigte sich, dass in der Zukunft die Morlocks besiegt werden können - und die Eloi befreit gehören. Das Tragische an dem bekannten Film, der sich den Roman von H.G.Wells als Handlungsablauf nahm, war - dass man sehen konnte, wie in der Zukunft ein Leben ohne Entbehrung, ohne Widerstand und ohne Gefahreneinsatz die Menschen (Eloi) zu dummen Idioten verkommen ließ - dafür aber die bösartigsten Vertreter der menschlichen Spezies (Morlocks) zu Sklavenaufsehern unter der Erdoberfläche machte, wo die Eloi bitterste Frondienste leisten mussten, ehe sie danach selber verzehrt wurden..

Fünfzehn Jahre später nach H.G. Wells Abscheiden aus dieser Welt  versuchten sich andere Ingenieure – diesmal in grauer Uniform – an einem Projekt, das in seiner Hybris der literarischen Chrononautenphantasie auf kuriose Weise ähnelte: die Abschottung der Gegenwart gegen unkontrollierte Zukunft sollte mit einer errichteten Mauer bewerkstelligt werden. Das war die Absicht. Die Berliner Mauer war bekanntlich keine bloße Grenzlinie, sie war der Versuch, die Zeit selbst zu verlangsamen, ja einzufrieren: Hier, diesseits des Betons und der mit Stacheldraht bewehrten Grenze, sollte der Sozialismus seine „entwickelte“ Form ungestört ausreifen, während jenseits davon der dekadente Kapitalismus in seine Endkrise taumelte.

Und heute? Die Materialien haben sich geändert, die Gesinnung der Zaunbauer eher nicht. Neue Zäune sind nicht aus Stein, sondern aus Konsens gebaut. Sie ziehen sich nicht quer durch Berlin und das Vaterland Goethe und Schillers, sondern lodern als Brandmauern in den Köpfen und Parteizentralen, wo man den politischen Mitbewerber durch Kniffe und Tricks aus dem Spiel zu halten versucht. Es sind Barrieren moralischer Selbstverklärung, errichtet von politischen Maurermeistern, die glauben, der historische Fluss lasse sich mit Haltungsattitüden und Talkshows in’s Banale umleiten. Doch jede solche Konstruktion ist – wie die damalig sozialistische Schutzarchitektur – eine Zeitverhinderungsmaschine von nur begrenzter Laufzeit, wie wohl neueste Umfragen eindeutig ergeben.

H.G. Wells wusste es: Jede Epoche trägt bereits die Hebel in sich, mit denen sie aus den Angeln gehoben werden kann. Keine Mauer, ob aus Beton oder aus brennendem Pathos, kann die Zeit austricksen. Die Zukunft der Gegenwart als das, was wir zeit nennen, verhält sich wie Wasser: Sie sickert ein, wenn nötig, Jahrhunderte lang, bis eines Tages  mit einem Schlag der Damm bricht.

Und vielleicht ist das die wichtigste Lehre, die der Dichter als Erfinder literarischer Zeitmaschinen den heutigen Politingenieuren erteilt: Wer glaubt, durch Mauern das Mögliche aussperren zu können, steht zwar irgendwie tatsächlich in der Werkstatt der Götter – aber er bedient deren Drehbank, ohne zu wissen, in welche Richtung dieselbe wirklich funktioniert ...

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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