Georg Friedrich Wilhelm Hegel (Teil 2)
Heimholungen

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Heimholung des Glaubens und des Denkens
Es gehört zu den elementaren Erfahrungen jedes einzelnenMenschen, dass der eigene Glaube nie eine stabile Größe ist, die einmal gewonnen, gleichsam als gesichertes Kapital aufbewahrt werden könnte. Der Glaube atmet. Er ist den Rhythmen des Körpers, den Stimmungen der Seele, den Schwankungen der Lebenslage ausgesetzt. Schon wenige Zehntelgrade Körpertemperatur genügen, um die Gewissheit der Nähe Gottes in einen flackernden Schatten zu verwandeln. Wer Fieber hat, glaubt anders, als wer sich bei heiterer Gesundheit wähnt. Der Glaube ist, wie der Mensch selbst, ein verletzbares, durchlässiges Geschehen.
Gerade darum ist die Einbindung des Glaubens in das allgemeine Denken und geregelte Nachdenken nicht Luxus, sondern bittere Notwendigkeit. Das Denken schafft nicht den Glauben, aber es umhegt ihn, gibt ihm Halt und Richtung, wie der Deich das Wasser fasst, ohne es dadurch erstarren zu lassen. Man könnte sagen: der Glaube braucht die Denktradition, um nicht von den Windstößen des Augenblicks verweht zu werden. Der Philosoph Georg Wilhelm Friedrich Hegel hat diese Überlegung mit einer gedanklich fast unendlich großen Geste aufgefächert: Dass der menschliche Geist nämlich sich seiner selbst bewusst wird, indem er seine eigene Subjektivität übersteigt und als etwas Vereinzeltes in das Allgemeine aufnimmt.
Und doch – wer nur den Deich baut, wer nur den Maßanzug des philosophischen Systems anlegt, der merkt bald, dass der Glaube zu atmen aufhört. Er wird grau, langweilig-bürgerlich, ordnungsgemäß. Er verliert sein glitzerndes Kolibri-Gesicht, das bunte Aufblitzen der unverwechselbaren Begegnung. Die Gefahr des „Glaubens im Dresscode“, in dem das religiöse Leben die Züge einer ewig gleichen Systematik annimmt, aber die anarchische Lust des eigenen Feuers verliert.
Die Aufgabe ist also doppelt: den brüchigen persönlichen Glauben durch das Denken zu stabilisieren, aber zugleich das allgemeine Denken durch den persönlichen Glauben farbig zu halten. Das ist der Prozess wechselseitiger Heimholung: Das Denken führt den Glauben in den stillen Hafen eines fast schon sicheren Besitzes – studere im Wortsinn: sich mühen, sich üben, durch Disziplin ein Refugium zu schaffen. Aber zugleich muss der Glaube das Denken zurückholen aus der Nüchternheit seiner Bibliotheken und Hörsäle, hinein in die Boudoirs der Subjektivität, in jene innersten Kammern, wo der Mensch in seiner Einzigkeit Gott begegnet.
So entsteht eine Bewegung, die man dialektisch nennen könnte – oder, einfacher: ein Atmen zwischen diesen beiden eben beschriebenen Polen. Der persönliche Glaube wird universalisiert, damit er Bestand hat. Das universale Denken wird personalisiert, damit es nicht zur toten Formel verkümmert. Hegel selbst hätte wohl das Ganze unter den Begriff des „Aufhebens“ gestellt: Bewahren, Überwinden und Neuwerden in einem.
Das Schöne, ja das Erhabene liegt darin, dass der Glaube eben nicht einfach Besitz ist, sondern Weg – und dass das Denken nicht Feind des Glaubens ist, sondern dessen kritisch ermunternder Freund. Manchmal ein Freund, der mit scharfem Witz fragt, ob die bunten Vögel im Innern nicht längst ausgestopft sind. Aber gerade dieser Witz, dieses ironische Funkeln, bewahrt davor, den Glauben zu verwechseln mit einer wohlgenormten Bürgerpflicht oder infantilen Regression.
Am 255. Geburtstag Hegels dürfen wir darum heute festhalten: Der Glaube bleibt persönlich, wenn er denkt. Und er bleibt wahr, wenn er sich nicht scheut, den grauen Maßanzug des Allgemeinen im Schrank hängen zu lassen, um im bunten Kleid der Subjektivität Gott zu suchen …
Autor:Matthias Schollmeyer |
Sie möchten kommentieren?
Sie möchten zur Diskussion beitragen? Melden Sie sich an, um Kommentare zu verfassen.