1. September Engelbert Humperdinck
Hänsel & Gretel

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Warum heute dieses Thema? Weil am 1.September im Jahr 1854 Engelbert Humperdinck geboren wurde – jener Komponist, welcher mit seiner Oper Hänsel und Gretel ein Märchen vertonte, das weit über Kinderspiel hinausweist. Es ist ein erstaunliches Paradox: Die stärksten Märchen des Abendlandes sind Kindererzählungen, die in Wahrheit nichts anderes sind als Verdichtungen der dunkelsten Konflikte des Erwachsenseins. Hänsel und Gretel zeigt dies exemplarisch. Was die Kinder erleben, ist nicht bloß eine Abenteuergeschichte im Wald, sondern das Drama der Mutterfigur als solcher, die hier gespalten erscheint: auf der einen Seite die erschöpfte Frau, die ihre Kinder schlägt, auf der anderen die Hexe, die sie im Ofen braten und verzehren will. Beides, so legt die Tiefenpsychologie nahe, sind zwei Spiegelungen derselben unerlösten Begierde.
Denn am Anfang steht nicht das Fressen der Kinder, sondern der Hunger der Mutter: die unersetzliche Begierde nach etwas anderem als Armut - das aber nicht da ist, weil es dem Milieu einer Holzfällerfamilie nicht entspricht - und was gerade darum auch als unmöglich und verboten erscheint. In der radikalen Märchenfassung verbannt die Mutter ihre Kinder in den Wald, in Humperdincks bürgerlich geglätteter Oper schlägt sie sie „nur“. Aber die Dynamik ist dieselbe: eine Frau, die das Unerreichbare begehrt, und ihre Ohnmacht darüber an den eigenen Kindern auslässt.
Dieses Muster begegnet uns nicht allein bei Humperdinck. Schon das Märchen vom Fischer und seiner Frau erzählt von einer Person, die nie aufhören kann, mehr zu verlangen: erst das Haus, dann das Schloss, dann die Krone, schließlich die Herrschaft über Sonne und Mond. Am Ende bricht alles zusammen. Die Hexenmutter und die Fischerilsebill sind verwandt: beides Gestalten einer Gier, die nicht sättigen kann, weil sie auf etwas zielt, was es nicht gibt.
Und auch die scheinbar harmlosen Märchen-Figuren – die törichte Else oder die kluge Else – gehören zu diesem Spektrum. In ihrer Unfähigkeit, zu wissen, wer sie sind, verkörpern sie das weibliche Selbstbild im Druck der Erwartungen: schlau sein zu müssen und töricht zu sein, für das Haus sorgen zu müssen und zugleich daran zu verzweifeln. Auch hier stürzt die Ordnung zusammen, weil die tragische Person den Ort nicht findet, an dem sie sein kann.
So zeichnet die Märchenlandschaft ein düsteres Panorama: die Frau, die begehrt, was nicht sein kann; die Frau, die verschlingt, statt zu nähren; die Frau, die unstillbar verlangt; die Frau, die an sich selbst zerbricht. Es ist, in den Bildern des Unbewussten erzählt, die dunkle Seite der Mutterschaft – und damit der ganze Schmerz des Menschseins überhaupt.
Und doch: am Horizont leuchtet ein anderes Bild. Die Märchen selbst lassen es erahnen, Humperdincks Musik deutet es an – in der süßen Innigkeit des Abendliedes, das wie ein Echo aus einer anderen Welt klingt. In den Jahrhunderten hat sich dieses andere Bild verdichtet in einer Gestalt: der Gottesmutter Maria. Sie ist die Andeutung einer Mutterschaft, die nicht von Gier und Ohnmacht gezeichnet ist, sondern von Hingabe. Die Märchen kennen sie nicht, die Musik ruft sie herbei, und die christliche Tradition hat sie zum Bild erhoben.
So bleibt Humperdincks Oper ein Drama zwischen Hexenküche und Abendgebet: ein Seelenraum, in dem die dunklen Frauenbilder Europas auf die Bühne treten – bis am Schluss, leise und wie von fern, die Ahnung einer anderen Mutter Gestalt gewinnt.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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