das Lamm
Geburtstagsgabe (27)

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Agnus, das Lamm, ist dran. Es bäht herzanrührend und liest seinen eben verfassten Brief vor. Tränen haben die Tiere geweint, kaum merklich - doch tropften sie nieder, da nun das Lamm ein großes Geheimnis enthüllt.

Ich bin, liebe Freunde, Agnus, das Lamm. Oft schon ward ich gemalt und gezeichnet. Ich trüge die Last aller Welt, singt die Messe. Und manchmal fühl ich mich auch genauso. Mein Fell wird geschoren - doch einmal zieht man es mir von den Rippen für alle Zeit. Mein Goldene Vlies … Das Schicksal der Lämmer ist schlimm. Wir schweigen dazu. Auch Ihr schweigt wie wir. Hinter allem Grausen da waltet, so heißt es, ein großes Geheimnis, ein tiefes Mysterium. Ostern springe ich fröhlich im Feld, und trage ein Fähnlein mit rosanem Kreuzstrick. Man bäckt sich auch Kuchen - der Form nach bin ich das. Mit Zuckerwerk schmückt man mein Bildnis, doch nur, um es gleich zu verzehren. Man hat mich so gern. Zum Fressen.

Als Martin Luther die Frage peitschte, wie er den gnädigen Gott sich erschüfe, spielte auch ich eine größere Rolle. Alle geistlichen Übungen hatten dem armen gepeinigten Mönche schließlich versagt. Die Furcht war nicht kleiner, nur größer geworden. Schließlich blieb nur die uralte Lösung: Ein Lamm musste die Schuld aller Welten forttragen. Das Lamm (es ist Christus, der Gott) hat erlitten sämtliche Strafe vergangener Zeiten und alle Strafe der Gegenwart ebenfalls. Auch die kommenden Strafen weit aus der Zukunft. Alt ist die Formel, alt die Idee. Einer muss bluten, die anderen alle finden darin die Erlösung für immer. Ich bin der Bluter, und Ihr habt den Frieden. Vergesst es nicht …

Derart sprach aus die ewige Wahrheit
Agnus, das Lamm, selbst Tier, vor den Tieren. Still beugen sich tief die anderen alle. Ehrfurcht kommt auf, auch Nobel der König senkt seinen Blick und gedenkt übler Taten.

Während nun Tetzel und noch viele andere schamlos die Furcht der Leute ausnützten, selber mit Taten, Gelübden und Werken, Frieden zu machen vor Gott, unserm Herrn - macht Martin Luther Ernst mit der Lehre. "Werft auf ihn alle Schuld" ruft er wacker. "Werft sie auf Christus, er trägt sie hinfort. Glaubt, dass sein Heilswerk am Kreuz für Euch ausreicht. Eigene Leistung müsst Ihr nicht bringen. Denn sie stürzt Euch nur in Verzweifelung. Glauben könnt Ihr bei letzten Dingen niemals Euch selber, sondern nur ihme. Gnade findet Ihr nur, wenn Ihr's glaubt. Glaubt und fühlt Euch alsbald neugeboren." So lehrte der Mann.

Und, indem diese Lehre bekannt wird, versteht man die Thesen dort hinten am Kirchtor. Luthers Freund Cranach malte diese Sache. Ist ja ein Bild viel deutlicher meistens, wo doch das Wort oft gar nicht verstanden wird, sei es aus Blödheit, aus Trotz oder Scham. Grünewald heißt uns ein anderer Maler. Einen Altar hat er geschaffen. Dort steht Johannes, der wackere Täufer. Er zeigt auf Christus, wie der am Kreuz hängt. Gleich daneben kann jeder auch mich seh'n. Ja, ich das Lamm, ich schaue treuherzig, wissend um meine große Aufgabe. Kennt Ihr das Bild?

Luther hat im Wesen verstanden, was der Kern des Christentums bleibt. Und er hat es deshalb verstanden, weil er selber zum Opfer geworden war. Glaubt mir, Verstehen ist meistens zu haben, aber oft nur, wenn man selber am Kreuze hängt. Doch ist das Hängen bereits immer von Christus, dem Lamm, für alle schon längst absolviert. Denkt drüber nach, so werdet Ihr wissen ...

Agnes - Lamm

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alle Tierbriefe hier

Matthias Grünewald - Isenheimer Altar (Detail)
Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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