ES GIBT
DAS WIRKLICH?

... was meinen wir, wenn wir sagen: "ES GIBT"?

Wer gibt da eigentlich, wenn es heißt: „‚Es‘ gibt”? Denn wir sagen es dutzendfach am Tag, ohne innezuhalten: Es gibt einen Stuhl. Es gibt dieses Bild. Es gibt ein Problem. Diese Formulierung läuft so glatt über die Zunge, dass sie fast unsichtbar wird. Und doch steckt in ihr eine mittelgroße Sprengladung - eine philosophische. Denn wer genau ist dieses „Es”, das da gibt?

Grammatisch betrachtet scheint alles harmlos zu sein. Das „Es” ist ein Platzhalter, ein formales Subjekt, eine Stütze der Syntax. Inhaltlich aber ist es ein Rätsel. Wir behaupten also die Existenz eines x-beliebigen Dings (Stuhl, Bild, Problem) – und umgehen zugleich die Frage nach dem Ursprung dieser Existenz. Der Satz „‚Es‘ gibt einen Stuhl” klingt nüchtern, beinahe objektiv. Doch er verschweigt, was er voraussetzt: dass etwas oder jemand das Erscheinen dieses Stuhls ermöglicht, trägt, freigibt. Nämlich dieses sonderbare „Es”.

Man könnte sagen: Das Es ist ein diskreter Schleier. Es verdeckt den Geber des Objekts. Und das Objekt bleibt also ohne Herkunft … Nehmen wir den Stuhl. Er steht da. Holz, vier Beine, Sitzfläche. „Es” gibt ihn. Aber so gesprochen, scheint er aus dem Nichts aufgetaucht zu sein. Keine Werkstatt, kein Schreiner, keine Tradition des Sitzens, keine Welt, in der Sitzen Sinn hat. Der Satz kappt die Genealogie des Gegenstands. Er isoliert das Objekt von seinem Gewordensein. „Es” - wer soll das sein, das uns den Stuhl gab?

Damit geschieht etwas Merkwürdiges: Das Objekt wird ontologisch verselbständigt. Es ist einfach da. Das „‚Es‘ gibt” wirkt wie ein metaphysischer Kurzschluss, der die Frage nach dem Woher höflich abwürgt. Und doch ahnen wir, dass diese Höflichkeit teuer erkauft ist.

Wer spricht, wenn niemand spricht? Das „Es” ist kein Ich. Es ist auch kein Wir. Es ist ein anonymes Sprechen, ein Sagen ohne Sprecher. Gerade darin liegt seine Macht. Denn was ohne Sprecher behauptet wird, erscheint als selbstverständlich, als unbestreitbar. Dieses sonderbare „Es” gibt etwas - und trägt den Tonfall der letzten Instanz, ohne sich je ausweisen zu müssen?

Hier berührt sich Alltagssprache mit Metaphysik. Denn auch die großen Sätze der Ontologie beginnen oft so: Es gibt Sein. Es gibt Wahrheit. Es gibt Gott. Spätestens hier wird das Unbehagen spürbar. Denn wenn wir sagen „‚Es‘ gibt Gott”, wer ist dann der Geber? Wer stellt Gott bereit? Wer reicht ihn uns dar wie einen Gegenstand unter anderen?

Die Frage ist nicht frech. Sie ist unvermeidlich. Gott als Objekt? Oder als Gabe? Die klassische Theologie hat genau an diesem Punkt gezögert. Sie wusste, dass Gott nicht einfach in die Liste der vorhandenen x-beliebigen Dinge eingetragen werden kann, auch nicht an ihre Spitze. Gott gibt es – dieser Satz ist gefährlich, weil er Gott in die Grammatikwelt der Objekte zwingt. Als wäre er ein besonders großes, besonders wichtiges Seiendes.

Joseph Ratzinger hat immer wieder darauf bestanden, dass Gott nicht gegeben ist wie ein Ding, sondern sich gibt. Das ist kein sprachlicher Kunstgriff, sondern eine ontologische Verschiebung. Gott ist nicht Objekt des Satzes, sondern Ursprung der Möglichkeit, dass es überhaupt etwas gibt, worüber Sätze gebildet werden können.

Anders gesagt: Wenn Gott ist, dann nicht, weil ein anonymes „Es” ihn herausgibt, sondern weil er selbst der Geber ist – des Seins, der Welt, des Denkens. Damit kippt die Grammatik. Und als Subjekt kehrt Gott zurück. Nicht Es gibt Gott - sondern: Gott gibt Gott

Und Weihnachten: Gibt es das? Fragen wir konkreter. Gibt es Weihnachten? Natürlich gibt es den 24. Dezember, Lichterketten, Geschenke, Gänsebraten. Aber das meint die Frage nicht. Die Frage zielt auf das Fest selbst – auf das, was wir Weihnachten nennen.

Und hier wird etwas Entscheidendes sichtbar: Weihnachten gibt es nur, wenn es gegeben wird. Nicht von oben herab, nicht automatisch, sondern durch Menschen, die sich darauf einlassen. Durch Erzählen, Erinnern, Singen, durch Unterbrechung des Alltags. Weihnachten existiert nicht objektiv wie ein Stuhl. Es existiert nur im Vollzug. Man könnte zugespitzt sagen: Weihnachten ist kein Objekt, sondern eine Praxis der Gabe.

Wer sagt „‚Es‘ gibt Weihnachten”, sagt in Wahrheit: Wir geben uns dieses Fest – oder wir lassen es uns geben. Ohne diesen gebenden Akt bleibt der Kalender leer.

An der Stelle des fast vergessenen „Wir” berührt sich Philosophie mit Alltagserfahrung. Viele unserer Klagen über den Verlust von Sinn, von Festen, von Glauben lassen sich so lesen: Wir sagen „Es gibt das alles nicht mehr” – und übersehen, dass wir selbst als Subjekte irgendwie aus dem Spiel getreten sind. Das anonym gewordene „Es” hat das engagierte „Wir” verdrängt.

Peter Sloterdijk hat diesen Vorgang mit scharfer Ironie beschrieben: Moderne Gesellschaften lieben Zustände ohne Akteure. Alles ist irgendwie der Fall, aber niemand fühlt sich zuständig. Das „Es gibt” wird zur Entlastungsformel. Doch Sinn lässt sich nicht delegieren. Er entsteht nicht durch Feststellung, sondern durch Beteiligung.

Schlussgedanke ohne Beruhigung: Vielleicht sollten wir vorsichtiger sprechen. Nicht ständig „Es gibt” sagen, wo wir eigentlich meinen: Wir tragen, wir empfangen, wir geben weiter. Der Satz „Es gibt” ist bequem, aber er ist auch ein Fluchtpunkt, von dem aus wir abspringen wollen aus der Verantwortung für Ursprung und Gabe. Am Ende dieses Textes steht also kein sanfter Trost. Nur diese Zumutung:

Wo immer wir sagen „‚Es‘ gibt”, sollten wir uns fragen, wer da eigentlich gibt – und ob wir bereit sind, Teil dieser Bewegung zu sein.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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