Hans Christian Andersen
in memoriam

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Die Kirche mit den Schwefelhölzchen
(in memoriam Hans Christian Andersen)
Es war einmal ein Wesen, das nannte sich selbst Kirche, aber es wusste gar nicht recht, was das eigentlich sein sollte. Ein Palast aus Liedern und Licht, ein Haus der Stille und der Stimmen? Ja, das wahr sie wohl einmal gewesen. Doch wenn die Menschen an ihr vorbeigingen, sagten sie:
„Ach, sie ist doch nur noch ein Schatten von früher.“
Oder:
„Sie will uns Vorschriften machen.“
Oder auch:
„Sie hat uns enttäuscht.“
Die Kirche aber war gar nicht so. Sie war, tief innen, ein Kind mit weiten Augen. Manchmal war sie ein Entlein, das sich fremd fühlte unter den Gänsen der Moderne. Und sie ist ein Mädchen mit dünnem Mantel und ein paar Schwefelhölzern in der Tasche, die niemand kaufen wollte. Oder eine Meerjungfrau, die sich nach einer Welt sehnt, in der ihre Stimme gehört wird, ohne dass sie ihre Flossen opfern muss?Und immer wird sie Gerda sein - die sucht - nach einem Jungen, der einst Gott hieß, aber unter das Eis geraten war.
Die Kirche ging durch die Städte.
Sie stellte sich auf Marktplätze.
Sie klopfte an Türen.
„Habt ihr einen Platz für mich?“ fragte sie leise.
„Einen kleinen nur, in eurem Herzen, in eurer Welt?“
Aber die Menschen sagten:
„Nur wenn du uns von unseren Schmerzen erlöst.“
„Nur wenn du uns Reichtum bringst.“
„Nur wenn wir mit dir Macht gewinnen und Einfluss.“
Die Kirche schämte sich.
Sie kramte in ihren uralten Taschen nach dem Wort Gottes, das wie ein zerknitterter Brief war, mit Tintenspuren, kaum noch lesbar.
Sie rief in die Straßen hinein:
„Liebt eure Feinde! Seid arm im Geist! Selig sind die Trauernden!“
Doch die Menschen schüttelten die Köpfe.
Sie lachten, riefen: „Das ist doch nicht zeitgemäß!“
Und gingen weiter – in ihre Studios, ihre Therapien, ihre Anklagen, ihre Einkäufe.
Die Kirche wurde müde.
Ihre Stimme war rau, ihre Hände zitterten.
Sie setzte sich in einen alten, verwitterten Dom, ganz allein, und weinte.
Da kam ein Zauberer – oder war es ein Engel? – mit einem Hut aus Glas und einer Stimme wie aus vergoldetem Eisen.
Er sagte:
„Wenn du willst, dass die Menschen dich wieder lieben, dann musst du das Weltmeer entzünden.“
„Aber wie?“
„Mit deinen Schwefelhölzern. Alle auf einmal.“
Die Kirche erschrak.
Denn sie wusste, das war gefährlich.
Aber auch groß. Und vielleicht wahr.
So ging sie, ganz langsam, auf den Weg nach Norden.
Durch stille Länder, durch Dörfer, in denen noch Glocken klangen.
Sie kam nach Kopenhagen, setzte sich ans Ufer.
Es war kalt.
Sie zündete ein Hölzchen an.
Ein zweites.
Ein drittes.
Die Flamme war klein, aber in ihr sah sie alles:
Die Gesichter der Kinder in der Arche, die betenden Greise, die Liebenden, die sich vor dem Altar küssten, das Brot, das geteilt wurde, das Licht, das vom Kreuz ausging, die Tränen beim Abendmahl.
Sie zündete alle Hölzchen.
Und das Meer begann zu leuchten.
Nicht in Flammen, nicht in Feuer – sondern im Licht der Erinnerung.
Und die Sonne stieg empor.
In diesem Augenblick wurde die Kirche ganz still.
Sie lächelte.
Und erstarrte – nicht aus Kälte, sondern aus Liebe.
Heute sitzt sie noch da.
Nicht mehr jung, nicht mehr schön, nicht mehr laut.
Aber da.
Aus Bronze gegossen.
In der Stille des Morgens.
Die Menschen gehen vorbei. Manche bleiben stehen.
Ein Kind fragt:
„Mama, wer ist das?“
Und die Mutter sagt:
„Eine, die einst alle Schwefelhölzchen opferte, damit wir glauben können, dass es Wärme gibt.“
Und wer genau hinsieht, erkennt in der kleinen Figur das hässliche Entlein, die Meerjungfrau, das Mädchen mit den Hölzchen und die suchende Gerda – alle in einem. Und alle in der Kirche.
Denn sie ist ein Märchen –
das nie ganz vergeht.
Autor:Matthias Schollmeyer |
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