Orte der Geduld
die Kirche

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
I. Anfang und Abgang
Wenn die alte Frage nach dem Anfang gestellt wird – Was war zuerst: das Huhn oder das Ei? –, so wählt die Weisheit manchmal einen dritten Weg. Nicht das Huhn, nicht das Ei, sondern das Nest – jener Ort, an dem sich beides begegnet, an dem Neues sich bereitet, Altes sich niederlässt, und das Leben im Zwischenraum ruht. Das Nest ist nicht die Idee der Sukzessivität, sondern eine konkrete Stätte. Es ist nicht der Logos, sondern sein Empfangsraum. In solcher Analogie liegt ein tiefes theologisches Motiv verborgen: Die Wahrheit, wenn sie in die Welt tritt, bedarf nicht zuerst der Klarheit, sondern einer Stätte gärender Verwandlung, einer Zone des Übergangs. Und diese Zone ist selten rein, nie steril, stets durchzogen vom Widerstreit zwischen Werden und Vergehen.
Die Philosophie hat lange gegrübelt über das Erste und Letzte, das Alpha und Omega, über den Punkt, an dem alle Ordnung ihren Ursprung nimmt. Und sie fragte das nicht nur in abstracta, sondern eben naturphilosophisch: Was war zuerst – das Huhn oder das Ei? Und die Antwort des Theologen dazu lautet wie gesagt: Das Nest. Und zwar das Nest als Ort der Sammlung, der Verortung, der Inkubation und – ja – auch der Gerüche und Düfte. Denn jedes Nest hat auch seine Unterseite. Eine warme, feuchte, mitunter nicht nur angenehme Zone, aus der das neue Leben ebenso wie das hervorgeht, was man im Allgemeinen Mist nennen darf. Wie jeder Leib hat auch die Kirche ihre Organe – das Herz der Mystik, das Hirn der Dogmatik, die Lunge der Liturgie – und eben auch das Verdauungssystem: die Synode.
II. Die Synode als Kloake – latrina et matrix
Die Synoden, diese Gremien des heiligen Durcheinanders, sind nichts anderes als intestinale Bewegungen im Leibe Christi auf Erden. Dort wird gesammelt, gegrübelt, gegoren, abgewogen, entschieden, ausgesondert. Manches wird als Glaubenssatz ausgeschieden – fest, wohlgeformt, definitorisch –, anderes als Gas abrupt entlassen: fromme Meinungen, pastorale Überlegungen, Dokumente, die flatulent in die Welt entweichen und nur kleine Kerzen zum Flackern bringen. Beispiel für Letzteres? Etwa der Satz: Impfen ist Nächstenliebe. Das war ein Spruch, der aus moralischen Enzymen geboren wurde, aber ohne ausreichende Verfügbarkeit im Blick auf längere Würdigung in dogmatischen Kontexten.
Die Geschichte der Kirche kennt also Orte des Übergangs: Konzilien, Synoden, Versammlungen der Geister und der Argumente. Sie sind – bildlich gesprochen – jene Nester des Glaubens, in denen gleichermaßen das Wertvolle und das Verworrene sich bereiten.
Synoden sind also eben gerade nicht! Orte reiner Offenbarung, sondern sie sind Gärkammern mit Ventilen. Dort begegnet sich die Kontinuität der Überlieferung mit dem Drang der Gegenwart. Synoden sind gleichsam Zwischenräume des Geistes, in denen das Heilige mit dem Unfertigen ringt. Mal wird aus beidem die klare Form einer dogmatischen Kristallisation geboren – wie in Nicäa oder Chalcedon –, mal aber auch nur das flüchtige Leuchten eines pastoralen Gedankens, der bald wieder (Gott sei Dank) verblasst. Hierin gleichen Synoden auch den Kirchentagen mit ihren Programmen und teilweise grotesken Abschlusspredigten.
So mag man sagen: Die Synoden der Kirche sind wie der Grund eines Teiches – aufgewühlt bei jedem neuen Zugriff, und doch der Ort, an dem sich das Klare absetzt, nachdem das Trübe endlich zur Ruhe gekommen ist.
III. Not und Kot synodaler Neuzeit
Der Klerus der letzten Jahrzehnte hat eigene Darmerkrankungen gezeitigt, wenn man das so nennen will. Synoditis acuta progressiva. Eine Krankheit, bei der das Bedürfnis auszuscheiden größer ist als das Bedürfnis vornehm zu speisen. Was daraus resultiert, sind keine wohlgeformten Lehrsätze, sondern endlose Koloskopien: Gendergerechtigkeitssynoden, Synoden zur Frage, ob der Zölibat mehr stört als nicht stört, Synoden über Synoden usw. Doch auch in allem Unflat rumort das Mysterium. Denn, wie schon Papst Johannes XXIII. beim Öffnen des Vaticanum II. bemerkt haben soll: „Wir wollen frische Luft hereinlassen – auch wenn sie erst einmal nur durch das Kloakefenster einströmt.“
So kommt es, dass aus der Kloake der Kirche – der Synode – sowohl das goldene Ei der Offenbarung als auch der zu entsorgende Mist von allerlei Modetorheit geboren wird. Und doch, wie Thomas Mann seinem „Tod in Venedig” jene bekannte metaphysische Noblesse verlieh, so wollen auch wir der synodalen Kloake, damit es an dieser Stelle nicht zu Missverständnissen kommt, alle die Ehre zukommen lassen, welche ihr gebührt.
Was ist gemeint? Thomas Mann beschreibt in der Novelle „Tod in Venedig” nicht nur das schlichte Vergehen des alternden Schriftstellers Gustav von Aschenbach in der morbiden Lagunenstadt. Vielmehr erhebt Mann den physischen Verfall – das Schwitzen, das Altern, die Krankheit, ja selbst den Tod dieses unglückseligen Mannes – in den Rang einer geistig-symbolischen Erfahrung. Die äußeren Ereignisse (Aschenbachs Reise, die Cholera, das ästhetische Begehren) sind Träger einer tieferen metaphysischen Bedeutung: Sie stehen für das Ringen zwischen Apollinischem und Dionysischem, zwischen Ordnung und Auflösung, Geist und Trieb, Kunst und Natur.
Die „Noblesse“ liegt darin, dass Thomas Mann das scheinbar Profane – das Schwinden der Würde, die Hitze, den Gestank, das Alter – mit der ihm eigenen hohen und gebildeten Sprache darstellt, durchwirkt von Zitaten, Anspielungen und philosophischen Kontrasten. Er lässt Aschenbach nicht einfach „sterben“, sondern transzendiert seinen Tod zu einem Sinnbild der Künstlerexistenz und der gefährlichen Nähe zwischen Schönheit und Vernichtung. Die Metaphysik des Verfalls, also die Idee, dass im Abstieg auch eine geistige Offenbarung liegt, wird im "Tod in Venedig" zu einer literarischen Form gebracht, die das Hässliche nicht verleugnet, sondern ästhetisch überhöht – und dadurch „adelt“.
Für unserem Kontext heißt das: Auch wenn etwas aus einem unscheinbaren oder zweifelhaften Ursprung kommt (Nest, Synode, Kloake, Gärung), kann es dennoch Träger des Erhabenen sein – so wie Thomas Mann den Tod nicht als bloßes biologisches Ende zeigt, sondern als geistige Passion. Und das ist jener Ort, an welchem das Göttliche sich entleert, damit wir lernen, zu unterscheiden zwischen dem Ei und dem nur zum Dung gehörigen Exkrement, zwischen Evangelium und Tagesmeinung, zwischen dem warmen Nest der Wahrheit und dem feucht-schimmligem Stroh der Aktualität. Oder mit Benedikt XVI. zu sprechen: „Die Wahrheit riecht nicht immer nach Rosenwasser. Manchmal hat sie den Odeur des Stalls von Bethlehem.“
IV. Kirche als Ort der großen Geduld …
Es gehört zur Weisheit des Glaubens, Geduld zu haben mit dem Unvollkommenen. Das Nest, warm vom Gelege, riecht nicht angenehm – aber es trägt die Möglichkeit in sich, den Vogel Roch, Granger oder gar den Phoinix eines Tages auffliegen zu lassen. Die Synoden sind also nicht der Ort reiner Antwort, sondern der Ort der langsamen Reifung. Dort geschieht, was man früher das „Gedächtnis der Wahrheit im Werden” nannte – eine Wahrheit, die nicht schon immer ist, sondern sich durchsetzt, ringt, sich wandelt und erst ganz zuletzt wirklich hell leuchtet. Mit diesem Blick lässt sich sagen: Nicht das Vollkommene ist der Ursprung des Heiligen, sondern das Geduldete, das Getragene, das im Werden sich Läuternde. Wenn alles klappt … Man muss Geduld haben.
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