ein Hochaltar aus Blei
Leberecht Gottlieb (Teil 133)

133. Kapitel, welches Leberecht Gottlieb in ein russisches Bleibergwerk einfahren lässt und uns vor den "Hochaltar der triumphierenden Kirche“ führt ... 

Es geschah an seinem ersten Frontage drunten im Blei, dass unser Held Leberecht Gottlieb - dermaleinst Pfarrer, nun aber verbannt nach Workuta - dass er also am Morgen hinabfuhr in den Schlot zur Tiefe des Berges. Hier würde er gefangen bleiben, hatte man ihm bedeutet, bis er die Baupläne des Raumzeitgleiters endlich preisgegeben. Wenn nicht, müsse er in diesem transibierischen Bergwerk schuften und  arbeiten, bis der gnädige Tod ihm Schippe und Hacke aus der Hand nehmen würde. Die Männer um ihn herum gaben keinen Laut von sich – stumme, gesichtslose Schatten, welche schon jahrelang bitteren Frondienst ableisteten. Es war still wie in einer Kirche, als der rostige Förderkorb ratternd in den Schacht stürzte wie ein verwundeter Gedanken in einem zu spät gesprochenen Gebet.

Leberecht Gottlieb, mittlerweile siebenundachtzig, trug eine wattierte Jacke, die stark nach Metall und Säure roch. Die Luft wurde kälter und kälter während der Niederfahrt, trockener, der Schacht schien sich endlos zu erstrecken. Und doch – irgendwann, nach einer Kurve und noch einer Kurve, welche wie Fragezeichen in das Gestein geschlagen worden waren, öffnete sich vor ihnen ein beachtlicher Raum.

Groß und majestätisch. Das war der Sammelplatz der Arbeitssklaven unter der Erde, still und schwach beleuchtet. Wie eine Lichtung im Wald anmutet, so war dies hier die Lichtung im ewigen Berge. Glimmende Neonröhren, flackernd, von Staub umspielt wie Weihrauchdunst ernster Kathedralen. Und in der bleigrauen Wand – Gottlieb hielt den Atem an – war ein Altar eingegraben. Riesig in seinen Ausmaßen, gekratzte Bilder bis hinauf in schwindelnde Höhen.

Nicht etwa aufgestellt wie die Sandsteinepitaphien in der Sakristei seiner heimischen Gotteshäuser zu Plötnitz und Mumplitz. Nein, nein - eingeschürft über lange Jahrzehnte. Und diese  Wände atmeten die Bildgeschichte des Leidens von tausend und mehr Arbeitsmännern, welche man hier unten hatte das Blei aus dem Fels hämmern lassen, damit aus diesem Metall mit der Ordnungszahl 82 Gewehrkugeln gegossen werden konnten. Die leeren Adern der ehemaligen Bleilager glänzten und die Wände glitzerten grau wie die schweißnasse Haut afrikanischer Negersklavinnen US-südstaatlicher Baumwollplantagen, wie das in dem Hollywoodfilm "Jango - unchained" zu sehen gewesen war. Ein Film, den Leberecht mehrere Male mit Grausen betrachtet hatte. Aber  in diese nun leeren Adern war das Evangelium eingeritzt worden. Die Gefangenen, so erklärte ihm jemand mit einem Fingerzeig und in leisem Flüsterton, hätten tatsächlich über Jahrzehnte hinweg – heimlich, unermüdlich und verbissen – mit rostigen Nägeln, Löffeln und Drähten diesen Bildaltar in den Bleifelsenstein eingekratzt. Und sie nannten dieses generationsübergreifende Werk Торжествующая церковь „die triumphierende Kirche.”

Leberecht trat dicht vor die graue Ikonostase. Ohne dass er es merkte, streifte er den Helm ab. Seine Knie schmerzten zwar, doch er achtete nicht darauf. Er kniete nieder und so trat er ein – nicht so sehr in einen physischen Raum, sondern in das Betrachtet-Werden durch die Figuren, dien ihn aus dem Blei heraus anschauten. Er kniete vor dem Hochaltar der triumphierenden Kirche.

Das war ein Werk! Aus Stein und Geduld, aus Vision, Disziplin und Dogma. Ein Gedächtnis aus dem weichem Metall, an dem sich schon so viele Alchemisten gemüht hatten, es in Gold zu verwandeln. Hier nun war es geglückt. Das Ding predigte. Wer näher trat, sah unweigerlich: Hier war alles zur Kirche geworden. Und jedes Detail dieser geritzten Wand galt als Bekenntnis. Zuerst sah man die wandernde Kirche. Ein Zelt inmitten der Wüste – aufgespannt zwischen Dornensträuchern, ein Lappen Segens in der Unrast der Zeit. Der Blei-Stein zeigte dieses Zelt weit aufgetan: Zeltbahnen flattern, Kinder rufen, ein Engel reicht Wasser. Nicht anders beginnt die Kirche. Als Palast? Nein - als provisorischer Lagerplatz der Hoffnung. Die Kirche ist das Volk Gottes auf dem Weg, das seine Heimat in der Begleitung durch Gott erkennt – nicht in festen Mauern, sondern im Antlitz gegenwärtiger Wunder. Darüber wölbt sich die Darstellung eines Schiffs, welches den Ozean durchquert. Das Holz rau, die Segel zerfetzt. Wellen schlagen an die Bordwand, doch vorne, unbeirrbar, steht Christus am Mastbaum des Kreuzes, die Jünger als emsige Ruderer. Ja - das alte Bild der Ecclesia navis. Die Kirche, kein Kreuzfahrtschiff, sondern eine Arche für die Sintfluten der Geschichte. Brandung tobt – aber unser Schiff fährt. Dann die flammende Dornhecke. Der Strauch aus grauem Blei windet sich empor, aus ihm leuchtet golden der Name Gottes in vier eingeschnittenen Lettern: YHWH. Eine Figur steht barfuß davor, in Ehrfurcht. Mose ist es, der Mann Gottes und Prophet. Doch die Kirche selbst - sie ist jene flammende Hecke, brennend sowohl vor enttäuschter als auch erfüllter Liebe, verzehrt vom Geist – aber unzerstörbar wie der Phoinixvogel. Ein Schritt weiter dann – eine Wunde aus oder im Blei, offen und doch nicht blutend. Denn daraus fließt Wasser, das in eine kleine geschliffene Mulde rinnt. Ein Kind wird getauft, ein Sterbender berührt das Becken mit der Stirn. Die Kirche selbst ist diese Wunde – nicht verheilt, sondern fruchtbar. In ihr lebt das Sakrament des Gekreuzigten fort, das Mysterium der Erlösung, das nicht in Stärke erscheint, sondern in der Tiefe der bedauerlichsten Schwächen lebt. Darüber schließlich ein Turm, geschichtet aus aufgeschlagenen Psalmen – jeder Metallblock ein Vers, jede Fuge ein Gebet. Aus der Spitze steigt Rauch empor, und mit ihm das dreimalige Sanctus der Engelchöre. Die Kirche aus Blei, ein Turm aus Gebet, gebaut aus den Stimmen der Lebenden und Toten, und nur gehalten von der Hoffnung der Armen. Am Sockel des Altars ist die Arche gestrandet, umweidet von hörnertragendem Vieh und umgeben von ausgestoßenem Getier, von schlafenden Kreaturen und schwebendem Geschmeiß. Die Tür steht offen. Ein Engel winkt. Hier ist die Kirche als Zuflucht für alle dargestellt, als communio pauperum, als Ort, an dem sogar das Tier wie ein Mensch atmet und der Mensch seinen Tieren kein Mörder mehr sein muss. Eine weitere Szene zeigt das zerknittertes Tischtuch, auf dem Brot liegt, ein Kelch, eine Kerze – und zwölf Schatten rundum sitzend. Das letzte Mahl, aus dem schiefergrauen Bleistein geformt – und dennoch so warm. Die Kirche als Tisch, gedeckt für die Sünder, die Zweifler, die Liebenden und Verbrecher. Als Einladung zur Teilhabe. Als Feier der Nähe. Darunter noch eine Träne, groß wie der Tropfen aus dem Auge des Horus, und darin gespiegelt das Antlitz Gottes selber. Die Kirche - also nicht nur Triumph über das Leid, sondern Wohnort des Leids, das ertragen wird, weil Gott den Tragenden zusieht und sie selig nennt, denn sie sollen getröstet werden. Eine Träne, die zur Taufschale geworden ist. Ein Gott, der weint – und durch dieses Weinen rettet.
Ach - und versteckt zwischen all den Mustern und Reliefs noch etwas: Ein Bettler mit einem Holzsplitter in der Hand – ein Splitter vom Kreuz. Niemand beachtet diesen Mann, aber ihm ist die heiligste aller Reliquien zu eigen. Der Kreuzessplitter.

Hier unten hat die Wahrheit der Kirche einen Ruheplatz gefunden. Unter dem Gebirge im Blei. Nicht in Kathedralen und ihrer ehrwürdigen Nacht, sondern in der Manteltasche eines Bettlers. Und  - aufsteigend von der Basis des Tympanons nun: Maria mit weitem Mantel, Kinder darunter, Obdachlose, Alte. Mutter Kirches Mantel, unter dem selbst der Tod keine Macht hat. Noch höher hinauf den Blick? Cherubim im Fluge, ihre Flügel berühren sich. Fast ... In der Mitte ein kniender Mensch. Denn die Kirche ist dort, wo der Mensch kniet und die Engel singen. Schließlich – ein Schrei, eingefangen in dem grauen Erz. Alle Propheten, mit aufgerissenen Mündern, ihre Schriftrollen brennen. Die Kirche also nicht schweigend, sondern schreiend, wo Unrecht geschieht. Und ganz oben, am Scheitel sieht Leberecht eine Pforte, durch die Licht fällt, und auf der Schwelle steht geschrieben: Ecclesia triumphans. Doch die Triumphatorin trägt kein Schwert, sondern einen Krug mit Wasser, eine Waage und ein gebrochenes Brot. Inmitten des Ganzen ein Kind, das lacht, ein Greis, der betet, eine Frau, die weint, ein Stern, der singt. Und plötzlich begreift man: Die Kirche ist das Geständnis und Gedächtnis Gottes vor den Menschen. Der Ort, an dem das Ewige sich viel Zeit nimmt. Der Leib, in dem Christus weiter leidet, liebt und lebt. Sie ist – wie es da in Metall geschrieben steht – „der Ort, an dem die Hölle ihren Namen verliert.“

Leberecht kniete. Nicht deshalb, weil man das so macht ... Sondern weil seine Knie nach acht Jahrzehnten verstanden, was sein Geist so sdhwer hatte fassen können. Hier, unter der Erde, in der Verlassenheit, im Blei – hier endlich war er angekommen. Nicht am Ziel irgendeiner unverständlichen Strafe. Sondern an jenem Ort, wo der Schmerz kein Gegenspieler Gottes mehr ist, sondern seine dunkle Handschrift.

Und während die Sirene zum Beginn der Arbeit heulte und die Männer aufstanden, um in die Stollen zu gehen, blieb Leberecht noch einen Moment knien. Da war ein Glühen in der Brust. Und ein Wort, das außer ihm keiner hörte, sprach er in das endlose Blei: „Ich danke dir, dass du mich hierher geführt hast.“
—-
alles andere von Leberecht Gottlieb hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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