Einhundert Meter
UNANTASTBARKEIT

Franz liegt in diesem Spitalbett und kann nicht sterben, er liegt und wartet auf nichts - auch nicht auf den Tod, denn der Tod hat ihn längst vergessen, und wenn der Tod einen vergessen hat, dann kann man nichts machen, dann liegt man einfach da und wartet, und Franz ist schon 105 Jahre alt, das muss man sich vorstellen, 105 Jahre, und er denkt nicht, er denkt nichts, und wenn er nicht schläft, freut er sich, dass er da ist, das sagt er auch immer wieder zu diesem Priester, der kommt, immer wieder kommt dieser Priester und fragt ihn, wie geht es Ihnen, und Franz sagt, wenn ich nicht schlafe, freue ich mich, dass ich da bin, und mehr gibt es nicht zu sagen, es gibt wirklich nichts mehr zu sagen, nichts.

Hundert Meter weiter liegt diese Frau, die beschlossen hat, ihr Kind abzutreiben, und man nennt das Schwangerschaftsunterbrechung, als wäre es etwas Sauberes, etwas Technisches, aber es ist der Tod, und dieses Kind, das fast schon geboren ist, dieses Kind hängt in der Luft, es schwimmt noch, aber es hängt in der Luft, und man weiß nicht, ob es leben darf, man weiß es nicht, weil drei Richterinnen mit ihren roten Roben, diese Leute da mit ihren lächerlich roten Roben, die so tun, als würden sie Gerechtigkeit verkörpern, weil diese Drei entschieden haben, dass man das so machen darf, diese Seinsgestaltung, wie sie es nennen, diese verantwortliche Selbstgestaltung, wie sie es nennen, und das Parlament hat genickt, alle haben genickt, bis auf ein paar, deren Name nicht genannt werden darf, und diese Richterinnenrichter mit ihren roten Roben sitzen dort wie übergroße Marionetten, die alles und nichts vom Leben wissen, aber wenig von dem, was hundert Meter weiter geschieht, von Franz, der einfach nur da ist, und von diesem Kind, das vielleicht nie sein darf.

Und die Welt dreht sich, sie dreht sich weiter, wie sie sich immer dreht, und sie trotzt den inneren Fliehkräften, weil sie sich nicht darum schert, was in diesen beiden Betten passiert, sie dreht sich weiter, mit einer Gleichgültigkeit, die fast wie Gnade wirkt, während Franz aufwacht und lächelt, nur ein kleines Lächeln, weil er da ist, einfach da ist. Und das Kind noch nicht da ist, obwohl es da ist - anderthalb Zehntelsekunden kurz vor seiner Geburt.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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