der Gott von Marko Petrovic
Hütchenspiel

Er hieß Marko Petrovic und saß jeden Tag auf dem staubigen Platz von Skopje im Schatten des bunten Wagens eines Eisverkäufers. Drei Becher vor sich, Eistüten. Er schob sie hin und her, schneller als man sehen konnte. Die Hände waren braun von der Sonne, sehnig wie alte Äste. Niemand wusste, wie alt er war. Manche sagten, er sei schon alt gewesen, als ihre Väter jung waren. Andere meinten, er habe sich niemals verändert, nur die Stadt um ihn herum sei moderner geworden.

„Unter einem dieser Becher“, rief Marko, „ist Gott.“ Seine Stimme klang nicht nach Scherz. „Wenn du findest, unter welchem Becher er ist, bist du wie er.“

Er sprach leise, aber es war, als würde die ganze Straße kurz still. Dann lachte jemand nervös, und Marko begann zu schieben. Die Becher tanzten. Links, rechts, vor, zurück. Er war schneller als ein Lidschlag, schneller als ein Gedanke. Man konnte nur die Bewegung sehen, nicht den Weg. Die Leute standen im Kreis. Einer setzte Geld. Ein anderer schüttelte den Kopf. Aber das Geld war nie die Hauptsache. Es war der Blick, der alle fesselte: der Versuch, etwas zu sehen, das nicht sichtbar war.

Ich stand da, hielt eine Eistüte in der Hand, Vanille und Pistazie. Es tropfte schon. Ich merkte, dass meine Waffeltüte genauso aussah wie Markos Becher. Nur umgedreht. Eine dünne Hülle, innen hohl, und vielleicht war Gott auch dort, in der Süße, im Schmelzen, im Augenblick, in dem man nicht wusste, ob das Eis schneller schmilzt oder die Sonne hinter den Dächern verschwindet.

„Welcher Becher?“, fragte Marko.
Ich sah die Becher, dann mein Eis. Ich wusste, dass die Frage nicht richtig gestellt war. Vielleicht war Gott nicht unter einem Becher. Vielleicht war er das Leere, die Bewegung, das Spiel selbst. Marko lächelte. Ich zeigte auf keinen der Becher. Er nickte, als wüsste er, dass dies die Antwort war.

Ein Wind kam, schob den Staub wie einen dünnen Schleier über den Platz. Ein Kind lachte irgendwo. Ich nahm einen Löffel von meinem Eis. Es war der beste Löffel meines Lebens.

Und in diesem Moment verstand ich, dass man nicht wie Gott werden muss. Es reicht, wenn man kurz spürt, dass alles schon da ist. In einer Eistüte, in drei zerbrechlichen Bechern, und im Herzschlag zwischen zwei Atemzügen.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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