Buchempfehlung
SCHEINTOD IM DENKEN

Peter Sloterdijk: Scheintod im Denken. Von Philosophie und Wissenschaft als Übung; edition unseld, Suhrkamp 2010 ISBN 978-3-518-26028-9

Wer den Inhalt des tatsächlich so genannten Bändchen verstanden hat, hat alles verstanden. Wer es las, muss nie wieder lesen um zu verstehen. Nach „Scheintod im Denken“ wird alles anders. Und „Du musst Dein Leben nicht mehr ändern“ nach dem Genuss dieser 147 Suhrkamp-Seiten. Denn Du hast nun gleichsam so etwas wie die gezogene Wurzel aus dem gleichnamigen Buch des Autors und aus „Sphären, Blasen und Schäume“, die Sloterdijk in den so benannten drei Wälzern durchmessen hat.

Freilich, – lesen macht auch Freude. Und deshalb wirst Du nach „Scheintod im Denken“ gleich nach dem nächsten Sloterdijkbuch greifen oder in die Fülle der dünnen Heftchen (zum Einstieg!) langen, die aus seiner Feder stammen. Mit Sloterdijk verhält es sich ähnlich wie mit Paulo Coelho. Ich meine den Suchteffekt … Allerdings mit dem Unterschied, dass die Bücher des Mannes aus Karlsruhe mit Erscheinungsdatum immer besser werden im Gegensatz zu denen des Brasilianers – wenn sich auch für den aufmerksamen Leser alsbald eine Grundfigur immer wieder zeigt, wie auch bei Coelho und anderen Autoren, denen man sich irgendwie verschworen hat, ohne dabei den Geist aufzugeben (das ist ein der Literatur abgelauschtes Gesetz). Aus dem in den Büchern Sloterdijks verarbeiteten Inhalt tritt irgendwann immer diese hellgraue edle Gestalt auf Dich zu – und wird Dir mit verführerischer Geste die Hand reichen wollen: Es handelt sich um eine Grundidee, die allen denen, welche selber schon einmal nachgedacht haben, hochvertraut, lieb und teuer sein wird und bleibt, auch wenn sie durch Lektüre demaskiert wird: Die consolatio in carcere, die große Trösterin im Kerker, die allen Kummer des Denkens stillt, indem sie das Denken als das entzaubert, was es ist: Eine große Fluchtbewegung enttäuschter Verlierer.

So ist das „Ausweichenkönnen und Ausweichenwollen aus den Bereichen des sogenannten wirklichen Lebens in die ätherischen Weiten der Theorienwelten“ Thema des kleinen Aufsatzes, der es in sich hat, und der ursprünglich als Vortrag in Tübingen zu hören gewesen ist.

Was uns so zwingend in den Überlegungen Sloterdijks entgegentritt ist aber die Entschleierung der Figur spezifisch alteuropäischer Art des Denkens. Und ist, dass in Folge von Sokrates, Platonismus und Neuplatonismus - (eigentlich der ganzen bekannten Metaphysik, die unwiderruflich geprägt hat und weiterhin zu prägen scheint, was wir Denken nennen) - unser Denken als Binde vor den Augen liegt und die Decke auf dem Antlitz einer Bewusstheit zu sein scheint, die es erst noch zu finden gälte.

Wirklich zu erkennen gelänge in der bisher gültigen „Denke“ nur, wenn der Erkennende aus dem, was man gewöhnlich „das Leben“ nennt, aussteigt und es ihm glückte, sich durch diesen oder jenen Trick und Kunstgriff auf den Standpunkt eines absoluten Beobachters zurückzuziehen. So die jahrtausendalte Mühe. Denn ein solcher Externer könnte ja durch nichts mehr gestört werden, – nicht einmal durch die eigenen Gedanken.

Tot, ohne tot zu sein – und lebendig, ohne etwas erleben zu müssen: Das ist der Zustand, der uns durch den Magier der Philosophen als bisher immer wieder anvisiertes Ziel erläutert wird.

Lesende bekommen zugleich Sehnsucht nach diesem Standpunkt im Nirgendwo – und zugleich atmen alle erleichtert auf, weil wir diese seltsame Sehnsucht endlich einmal in lockerer Art und mit viel Esprit vorgeführt bekommen. Man hat es immer schon geahnt … Etwa, wenn man über dem eigenen Denken melancholisch und nachdenklich geworden ist, wenn man an die göttliche Phiole auf dem Kamingesims gedacht hat – aber sie dann doch aus irgendwelchen Gründen dort stehen ließ.

Das Umwenden der Seiten in dem Bändchen vom „Scheintod im Denken“ mag rascheln – und hat denselben Effekt wie die Osterglocken in der Studierzimmerszene – das wird man tatsächlich mit etwas pathetischer Übertreibung – ohne damit zu weit zu gehen – sagen dürfen.

Aber es soll nicht zu viel verraten werden. Nur noch dieses: Sloterdijk will genossen werden. Sloterdijklesende sollten, sofern im Haushalt nicht schon vorhanden, ein Fremdwörterbuch gleich mit bestellen – und an den Wortschöpfungen ihres neu erkorenen Autors Freude zu empfinden versuchen. Es wird meist gelingen. Wir werden auf jeden Fall belohnt. Mit Erkenntnis. Mit vielen neuen Fakten, Von denen man bisher gar nichts wusste.

Wer ein paar Seiten nicht gleich versteht – einfach erst mal drüber hinweglesen. Das Verständnis tritt manchmal nach Tagen ein. Das ist kein Witz, sondern ein ernstzunehmender Tipp für anspruchsvolle Lektüre sowieso. Und – Sloterdijk-Lesen ist einfach auch ein Genuss, ist zugleich Gaudi. Und man lernt sich selber – samt der Art, in der man bisher zu denken gedacht hatte – kennen.

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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