"Warum singt der Mönch?"
GOTTESDIENSTEXKURSIONEN

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
GOTTESDIENST ALS EXKURSION
1) Bei den Australopithecien - der erste Gottesdienst bei Homo Sapiens
Der Rauch war blau. Nicht weil jemand das wusste. Sondern weil die Dämmerung fiel und das Feuer atmete. Der Wind kam von Osten, wo das Wasser ist. Die Gruppe saß im Kreis. Nicht aus liturgischer Überlieferung – sondern weil der Kreis die einzige Form war, die man verstand.
Sie hatten gejagt. Sie hatten gegessen. Nun schwiegen sie. Es war der Teil des Tages, der zwischen Herzschlag und Traum lag.
Ein alter Mann – oder eine Frau, niemand wusste das – erhob sich. Er hatte den Kiefer eines Bären um den Hals. Seine Stirn war von Asche gezeichnet. Nicht als Symbol. Sondern weil er den Rauch geliebt hatte.
Er sprach. Nicht in Worten. Er stieß Laute aus – rhythmisch, gestaut, fragend. Die anderen nickten. Einer schlug mit der Hand auf einen Stein. Ein Kind begann zu wippen. Der Wind drehte.
Dann hob der alte Mensch einen Knochen. Ein langer, weißer Knochen – vielleicht von einem Feind, vielleicht von einem Vater. Er hielt ihn in die Glut. Alle sahen. Alle verstanden nicht – aber spürten. Der Knochen knackte. Ein Funke stieg auf.
Und da: Ein Schrei. Ein einziger, heller Laut. Kein Name. Kein Gebet. Ein Ruf nach Etwas. Oder vor Etwas. Oder aus Etwas. Der Jüngste stand auf. Er malte mit Ruß drei Linien auf den Felsen: eine nach oben, eine nach unten, eine quer. Ein anderer legte eine Hand auf den Bauch. Die Frau neben ihm auf die Brust. Der Älteste auf den Kopf.
Sie blieben so. Drei Atemzüge lang. Dann schlug jemand zwei Steine. Der erste Klang. Er hallte. So antwortete er sich selbst, weil sonst keiner antwortete.
Ein Kind begann zu tanzen. Ein Hund bellte. Und schwieg wieder. Der Kreis löste sich nicht auf. Er verwandelte sich in Schlaf. Über ihnen: der Himmel – unbedeutend, und doch voller Zeichen. Sie hatten gebetet. Ohne Gott. Und doch zu ihm hin.
2) Ein Idyll am Sonntagmorgen - bei uns Protestanten zu Hause …
Ich war wieder einmal – man verzeihe mir die konfessorische Offenheit – in der Kirche. Ja, in jener kleinen, ehrwürdigen, lehmfarben verputzten Dorfkirche, deren Turm sich wie ein Mahnfinger aus dem Faltenwurf des thüringer Hügellandes hebt, nicht hochfahrend, nicht glänzend, sondern aufrichtig, wetterzerzaust, demütig wie ein altfränkischer Schulmeister mit aufgekrempeltem Sakko.
Der Morgen war feucht, das Gras trug Tau, und die Glocke rief mit jener Mischung aus Blech und Ewigkeit, wie nur Dorfglocken sie hervor bringen, zur Andacht. Ich trat ein – nein, ich wurde eingelassen, denn die Tür klemmte. Die Kirchenälteste, eine Witwe mit dem Antlitz einer biblischen Prophetin, die die Heilige Schrift stets in einer Stofftasche mit floralen Motiven dabei hat, nickte mir zu, nicht ohne jenen feinen Hauch von Tadel, der andeutet, dass man letzten Sonntag gefehlt habe.
Die Bänke waren hart, die Heizung – wenn sie denn existierte – schwieg, und doch lag ein unsäglicher Trost in der Geborgenheit dieses rauen Gemäuers. Die Liturgie begann. Der Pfarrer, eine etwas verblichene Erscheinung im schwarzen Talar, mit der Stimme eines verlegenen Baritons und dem Gang eines Mannes, der zu viel gesessen hatte, um Konfirmandenunterricht zu erteilen, hob die Hände zum Eingangsspruch.
Ich lauschte. Ich versuchte es. Und ich scheiterte – denn in der dritten Bank rechts sang eine Frau mit solcher Inbrunst, als gelte es, die Decke zu sprengen. Der Choral, ohnehin ein Grenzgang zwischen musikalischer Formstrenge und bäuerlicher Inbrunst, geriet zur Prüfung meiner Geduld …
Die Predigt nun – ein Meisterstück altgedienter Erbauung, durchsetzt mit Anekdoten, Gleichnissen und einem Zitat von Bonhoeffer, das behutsam eingebettet war, dass es wie das Schokoladenstückchen im Müsli ergötzend auffiel. Und doch: Ich bemerkte, bei aller pastoralen Mäßigung, den Blick eiens Mannes, der weiß, wie die Welt draußen eine andere Sprache spricht. Es war ein tapferer Versuch, der Welt das Evangelium in bequemen Hausschuhen darzureichen.
Am Ende ein Vaterunser, das mehr gehaucht als gesprochen wurde – und ein Segen, bei dem ich unwillkürlich den Kopf neigte wie ein Schüler vor dem Klassenlehrer.
Dann trat ich hinaus. Die Luft war klarer geworden, das Licht lag silbern auf den Gräbern. Ich fröstelte. Und spürte, trotz allem, das leise Glück, für einen Augenblick in einer Welt verweilt zu haben, die sich nicht verbessern möchte, sondern nur bestehen will.
3) Zu Besuch bei den Römischen (Erinnerung eines protestantischen Fremdgängers)
Ich ging – nicht zum ersten Mal, doch mit jenem leisen Anflug von Exkursionslust – zur Messe. Und zwar in jene Kirche, die man im Ort ehrfurchtsvoll die katholische nennt, als gäbe es keine andere, als sei sie Arche und Insel zugleich in einem stürmischen, von Weltlichkeit gepeitschten Meer spirituell allgemeiner Ungültigkeit.
Der Bau: eine Mischung aus süditalienischem Bedürfnis und fränkischer Scham. Gelb angestrichen, barock ambitioniert, doch innen von nüchterner Zweckform, als habe man dem Heiligen Geist geraten, sich bitte an die Bauordnung zu halten.
Ich betrat das Kirchenschiff – ein wunderbares Wort übrigens, das nichts so sehr meint wie unsere sanfte Entführung aus dem Alltag. Weihrauch lag in der Luft, nicht drückend, sondern wie ein ausatmendes Erinnern an fremde Zeiten. Der Ministrant, kaum dem Milchgebiss entwachsen, schellte mit der Glocke, als ginge es darum, den lieben Gott selbst aus dem Schlaf zu rütteln.
Der Priester – eine Figur von geradezu römischer Würde, mit silberner Tonsur und geschmeidigem Schritt – verbeugte sich vor dem Altar, hob die Hände, senkte sie wieder und begann mit Worten, deren Klang mehr zählte als ihr Inhalt. Es war Liturgie, und sie schimmerte wie ein zeremonielles Gedicht.
Ich stand, ich kniete, ich saß – nicht immer im richtigen Moment, aber von der Gemeinde gnädig geduldet. Ein greiser Herr neben mir bekreuzigte sich mit solcher Inbrunst, so dass ich mich unwillkürlich für meinen ärmlichen protestantischen Puls schämte.
Die Predigt war kurz – und dies war ihr größter Vorzug. Sie sprach von Maria, von der Stille, von der Nähe Gottes im Geringen. Der Priester sprach nicht zu uns, sondern durch uns hindurch – als sei er nur Sprachrohr einer großen heiligen Müdigkeit, die weiß, dass alles längst gesagt ist.
Dann die Eucharistie. Ich blieb sitzen, pflichtbewusst ehrfürchtig, aber bewusst unkommuniziert. Und doch – in jenem Moment, da die Hostie erhoben wurde, da das kleine, weiße Brot zum Nabel der Welt wurde, spürte ich ein Zittern. Nicht des Leibes, nicht der Vernunft – sondern ein feines metaphysisches Frösteln.
Draußen flirrte das Licht durch die bunten Fenster. Ich trat hinaus, nicht gerettet, nicht bekehrt – aber angehaucht von etwas, das älter war als mein Zweifel.
4) Bei den Orthoxen - Ein Sonntag in Gold und Rauch (Bericht eines westlichen Wanderers in östlichen Mysterien)
Ich hatte mich, vom Geist der Vergleichung und einer gewissen inneren Unruhe getrieben, in eine orthodoxe Liturgie begeben. Die Kirche, eine Kuppel aus Zeit und Raum, verborgen zwischen Wohnblocks und staubiger Parkbucht, zeigte sich außen von schlichter Betongotik – doch innen war sie ein brennendes Gedicht.
Gold – wohin man sah. Ikonen, die nicht gemalt, sondern geschrieben waren, Blicke, die nicht schauten, sondern durchbohrten, Christus, Pantokrator, über mir in der Kuppel, als würde er in jedem Moment beschließen, die ganze Welt einzuziehen wie ein Mönch seine Kapuze.
Ich stand. Alle standen. Es wurde nicht gesessen. Auch nicht erklärt. Der Priester – ein Mann mit wallendem Bart und dem Ernste alttestamentlicher Richter – verschwand hinter dem Ikonostas, erschien wieder, verschwand, erschien. Rauch stieg auf. Und Gesang, mehr Atem als Melodie, klang durch die Kuppel wie das Echo eines ewigen Ursprunges.
Nichts wurde begonnen oder abgeschlossen – es geschah einfach. Die Liturgie war ein Strom, in den man eintauchte, ob man wollte oder nicht. Ich wusste nicht, an welcher Stelle der Ablauf sich befand, doch ich war mittendrin – wie ein Spaziergänger, der sich im Urwald verirrt und dabei zu wandern beginnt.
Ich erkannte vieles nicht – und das war gut. Denn die Unkenntnis war nicht Beschämung, sondern Einweihung. Mystik ging vor Didaktik. Der Gläubige war hier kein Hörer, sondern ein Mitwanderer durch das göttliche Mysterium.
Ein Kind begann zu weinen. Niemand störte sich daran. Eine alte Frau bekreuzigte sich fünfzehn Mal, ehe sie eine Kerze entzündete. Zwei Studenten in Jeans verbeugten sich gemeinschaftlich, als hätten wären sie aus einer anderen Welt eben gerade synchronisiert worden.
Und dann, fast unmerklich, war es zu Ende. Kein Schlussapplaus, kein „Gehet hin in Frieden“. Die Menschen verneigten sich vor der Ikone, küssten, schwiegen, verschwanden. Ich trat hinaus in die Welt – und war nicht ganz sicher, ob ich die wiedersah, die ich verlassen hatte, als ich hier eintrat. Die Luft roch nach Frühling. Oder war es Weihrauch?
5) Ein Sonntag im Vogtland - bei der Landeskirchlichen Gemeinschaft (Mit Gitarre, Jeanshemd und Geist)
Ich war zu Gast bei den Freien. Nicht bei denen der Welt, nein – bei jenen, die den Herrn preisen in Schlichtheit, Hingabe und laminierten Liedblättern. Die Baracke, in der die Versammlung stattfand – einst ein Schulhort, dann LPG-Versammlungsraum, nun Tempel des Evangeliums – stand etwas abgeschieden, als wolle sie von sich aus niemandem zur Last fallen.
Drinnen empfing mich eine Wärme, wie sie nur aus der Kombination von Gebläseheizung, Plastikgardienen und menschlicher Aufrichtigkeit entstehen kann. Der Raum: rechteckig, linoleumgrau, vorn ein Kreuz aus Sperrholz, schräg davor ein Overheadprojektor aus dem Jahr der Wiedervereinigung. Ein Bruder mit akkurat gescheiteltem Haar richtete gerade die Liedfolie ein – sie trug den Titel: „Herr, ich komme zu Dir“, leicht verwischt von vielfältigem Gebrauch.
Die Musik begann: zwei Gitarren, eine davon verstimmt, doch mit Mut zum Einsatz. Die Musikerin trug ein Jeanshemd, das schon viele Aufbrüche gesehen hatte. Der Rhythmus: ein zaghafter Off-Beat, der sich zwischen Weltmission und Wochenenddienst bewegte. Man klatschte – nicht ekstatisch, aber aus ehrlich solidarischer Pflichterfüllung.
Meine Begrüßung durch den Gemeinschaftsleiter war herzlich, vogtländisch singend und voller Substantive: „Schön, dass du da bist. Auch wenn du nicht aus unserer Reihe kommst.“ Ich nickte – ob meiner Herkunft aus der Landeskirche beinahe als Missionsobjekt empfunden.
Dann die „Botschaft“. Sie kam nicht mit Pathos und PowerPoint, sondern mit Folienblatt, sauber aufgeschrieben in blauer Faserstift-Handschrift. Der Text: Römer 12, die Mahnung zur Hingabe, Opfer, Gehorsam, aber mit einem Hauch von Trost, wie er hier in Plauen unter den Frommen geschätzt wird.
Der Redner – ein Mann (Typ zwischen Buchhaltung und Bruderschaft) sprach mit der Sicherheit des langjährig Erprobten. Seine Sätze waren einfach, manchmal zu einfach, aber ehrlich. Er sagte „Jesus“ ohne Zusatz, „Sünde“ ohne Anführungszeichen und „Hoffnung“ mit leichtem Zittern in der Stimme.
Man betete gemeinsam. Im Kreis. Die Gebete klangen wie Gespräche mit einem alten Freund, dem man nicht alles erklären muss, aber alles sagen darf. Dann Tee. Filterkaffee. Käsekuchen. Gemeinschaft. Einer fragte, ob ich „wiederkommen wolle“. Ich verneinte freundlich, versprach aber ein „vielleicht“ – und meinte das auch genauso.
Denn ich ging hinaus mit dem Gefühl, dass hier, zwischen Gitarrenakkorden, Heizungsrauschen und echtem Glauben, etwas wohnte, das nicht nur von unten kam.
Es war einfach. Es war gut. Es war ein Sonntag im Vogtland.
6) Sonntag in der Herrlichkeit (Bei den Pfingstlern - Erlebnis zwischen Fahne und Feuer)
Ich war aufgebrochen, um es zu sehen. Jenes vielbesprochene, manchmal belächelte, stets bestaunte Phänomen: den charismatischen Gottesdienst, wie er sich an der Peripherie der theologischen Landkarte ereignet – dort, wo die Dogmen weichgekocht, die Arme erhoben und die Grenzen zwischen Himmel und Halle fließend werden.
Die Veranstaltung trug den Namen „Feuerstrom 24“ – wobei die Zahl nicht das Gründungsjahr, sondern die Dauer des Lobpreises in Stunden zu bezeichnen schien. Der Ort war eine freigewordene Tennishalle, umfunktioniert zur Begegnungsstätte der Heiligen. Der Boden mit farbigen Matten ausgelegt, die Wände mit Tüchern verhangen, auf der Bühne: ein Lobpreis-Ensemble von sieben Personen, drei Gitarren, ein Cajón, ein Keyboard, eine Geige – und, ich lüge nicht, ein Schofar.
Ich nahm Platz. Oder vielmehr: Ich stellte mich in den Bereich „Offen für den Geist“, zwischen zwei Fahnenwinkerinnen, die mit lilafarbenen Tüchern in geometrisch anspruchsvollen Bahnen den Lobpreis mit ihren Windmühlen beatmeten.
Der erste Akkord erklang – laut, lang, leicht dissonant. Dann: „Ich will tanzen auf dem Wasser, ich will fliegen mit dem Wind…“ Ich dachte unwillkürlich an Rilke. Doch es war kein Gedicht, sondern eine Betung, wie man hier sagte, eine Mischung aus Bekenntnis, Gefühl und Gesang.
Der Prediger trat vor. Jeans, weißes Hemd, Head-Set-Mikrofon an der Wange. Er sprach nicht, er vibrierte. Der Text – Jeremia 29,11 – wurde nicht ausgelegt, sondern entfaltet: prophetisch, dynamisch, pneumatisch. Jeder Satz begann mit „Ich glaube, der Herr sagt heute…“ – und man glaubte es mit.
Dann: der prophetische Eindruck. Eine Schwester, sichtlich ergriffen, berichtete unter Tränen, dass sie „eine Tür sah – sie war golden, sie war offen, und sie hatte einen Griff aus Licht“. Man klatschte, man weinte, man nickte. Ich auch. Ich wusste nicht warum – aber es war schön.
Der Altar war eine Bluetooth-Box auf einem Fass. Die Eucharistie war Gummibärensaft und glutenfreies Brot in Schnapsgläsern. Man nannte es „Abendmahl to go“.
Als ich ging, lief noch Musik. Manche lagen auf dem Boden. Andere tanzten. Wieder andere standen einfach still da, wie esoterische Bäume im leuchtenden Sturm des Lichts aus dem Universum.
Ich trat hinaus, geblendet vom Tageslicht, benommen vom Klang, innerlich leicht verbeult – aber in mir schwang ein Satz, der nicht von mir war:
„Du hast vielleicht nicht verstanden, was geschah. Aber etwas hat dich verstanden.“
7) Ein reformierter Sonntag (Bei den Reformierten - zwischen Zwingli und Zivilisation)
Es war ein Sonntag hell und klar. Sonntag wie aus dem Prospekt einer schweizerischen Gesundheitskasse – klar, kalt, kontrolliert. Ich begab mich in das Gotteshaus der Reformierten, nicht aus Neigung, sondern aus jenem Bildungsbedürfnis, das selbst vor der Ästhetik des Asketischen nicht zurückschreckt.
Die Kirche stand da wie ein Paragraph: aufrecht, nüchtern, frei von jeglicher Verzierung, als sei man im Himmel der Dinge nicht froh wegen ihrer Schönheit, sondern wegen ihrer Ordnung. Drinnen: Sitzreihen in Eiche matt, Gesangbücher, die mehr nach Inventarliste als nach Mystik dufteten, und eine Gemeinde, wie sie knapper nicht hätte beschrieben werden können als mit dem Wort: respektabel.
Die Frauen – fast alle jenseits der Siebzig, die meisten über Neunzig – trugen alle Lippenstift in historischen Farben, violett, karminrot, zartbeige. Die Haarfrisuren oder Perücken: drapiert wie Porzellankränze, ihre Köpfe: leicht wackelnd im Takt der Erinnerung. Man konnte nicht sagen, ob sie sangen oder summten, beteten oder rechneten. Doch sie waren da. Und sie gaben reichlich. Die Kollekte klang wie ein Klavierstück in Münzen und raschelte wie als ob jemand in einem Papierkorb etwas suche und lange nicht fand.
Die Predigt begann pünktlich. Der Pfarrer – ein emeritierter Staatsbeamter in einem Talar, der mehr an die Anwaltsroben der guten alten Zeit erinnerte – trat an die Kanzel. Kein Begrüßungswort, kein Zitat, kein Umweg. Gleich zur Sache. Zwingli und Calvin hätten gelächelt, wenn beide je dazu geneigt gewesen wären.
Die Textauslegung war trocken wie ein sandiger Wallfahrtsweg. Es ging um Verantwortung, um Disziplin, um das Vermeiden jeglicher Regung. Das Wort „Gnade“ fiel einmal, und zwar im Kontext eines juridisch-forensischen Amtsaktes. Die Pointe war ein Verweis auf den Unterschied zwischen Heil und Heiliger Schein. Das notierte ich mir – und vergaß es sofort.
Dann – ein Moment der Bewegung: eine Taufe. Die Familie war bereits vorher aufgefallen. Drei Wagen parkten vor dem Portal: ein Audi Q7, ein Volvo XC90, und ein Tesla, den jemand leise bewunderte, als wäre es ein Wallfahrtsbild. Die Mutter in hellblauem Kaschmirmantel, der Vater mit Schal im Farbton der hiesigen Tageszeitung. Das Kind: Babyhaar, Taufkleid aus Frankreich, Ausdruck voller Urvertrauen. Der Name des Täuflings lautete Hansueli. Und die Familie hieß Hürlimann.
Die Zeremonie war knapp, würdig, unterkühlt. Kein Tropfen Wasser zuviel wurde verschwendet, kein Satz unnötig gesprochen. „Ich taufe dich im Namen des Vaters, des Sohnes und des Heiligen Geistes“ – und schon war es geschehen. Eine ältere Dame nickte beifällig, als sei soeben ein Verwaltungsvorgang fehlerfrei abgeschlossen worden.
Nach dem Segen verbeugte man sich vor dem Ausgang, jedoch nicht voreinander. Beim Hinaustreten wurden die neuen Volldämpfungsmatten gewürdigt, ein Flugblatt zum Thema „Freiwillige Friedhofspflege“ verteilt, und eine Dame äußerte, dass die Predigt „heute sehr sachlich“ gewesen sei – was in diesem Kontext als höchstes Lob gelten durfte.
Ich trat hinaus. Die Luft war noch immer klar, die Autos glänzten noch immer still. Und ich dachte: Hier wird nicht gebetet, um zu fliegen. Sondern um nicht zu fallen.
8) Sonntag unter dem Blechdach der Maranatha-Gemeinde (Bericht aus sengenden Glut)
Ich war eingeladen – oder vielleicht auch nur mitgezogen worden – zu einem Gottesdienst der Pfingstkirche Maranatha Internationale, irgendwo in den Vorhügeln des westafrikanischen Küstenlandes, zwischen Mangobäumen, Blechhütten und der alten Plantagenstraße, auf der morgens immer die Ziegen schlafen.
Der Gottesdienst fand in einer offenen Halle statt – drei Wellblechwände, ein grob gezimmertes Kreuz, eine Bühne aus Paletten. Darüber ein flatterndes Banner: CONDOM-BLÉ POUR LE CHRIST. Ich verstand es zuerst falsch. Dann sah ich die Trommeln.
Der Boden bebte bereits vor Beginn. Nicht metaphorisch. Die Trommeln wurden geschlagen wie einst das Herz der Ahnen schlug – kreisend, steigernd, vorwärtsdrängend, bis der Staub zu tanzen begann. Die Menschen – zumeist Frauen in bunten Gewändern, Kinder mit halb geflochtenem Haar, Männer in Fußballtrikots und Jesus-Shirts – füllten die Halle bis in die letzte Lücke.
Und sie kam. Sie trat auf wie eine Königin, wie eine Seherin, wie eine Sturmwarnung: Madame Grâce, einst Mawu-Lisa-Voodoonon, nun „Évangéliste du Feu Vivant“. Ihre Augen blitzten, ihr Lachen glich einem Donnern. Sie griff zum Mikrofon – und die Menge brach los.
„Maranatha!“ rief sie.
„Jeschua!“ antwortete das Volk.
„Maranatha!“ – „Jeschua!“
Und ein drittes Mal, nun mit bebendem Hall:
„JESCHUA!“
Dann: Zungensprache. Keine zaghafte Silbenlitanei, sondern ein gellender Strom aus Lauten, Schreien, Stöhnen. Der Schweiß floss von den schwitzend glänzenden Körpern, die Trommeln wurden schneller, die Stimmen überschlugen sich. Menschen fielen, lachten, zitterten. Einer krümmte sich und begann sowas wie zu prophezeien, eine andere sang auf den Knien Melodien, die niemand kannte, aber alle mittrugen.
Die Evangelistin war nun in der Mitte, tanzend, predigend, rufend. Sie beschwor die dritte trinitarische Person, als sei die ein alter Ahnengeist – nicht höflich, sondern fordernd, mit der Stimme jener, die gelernt hat, dass Dämonen sich nicht mit leisen Bitten vertreiben lassen.
Dann: Heilung. Eine Frau mit blindem Blick wurde nach vorn geführt. Madame Grâce sprach, spie, tanzte, schlug in die Luft. Der Chor rief „Feu de Dieu!“ – und die Frau begann zu weinen. Ob sie sehend wurde? Ich weiß es nicht. Aber alle riefen: „Elle voit! Elle voit!“ – und es genügte. Zwischen all dem: ein Junge, der lachte wie unter Strom. Eine Alte, die auf einem Bein sprang. Ein Mann, der mit leerem Blick sich immer wieder rückwärts auf den harten Lehmboden fallen ließ.
Und über allem:
„Maranatha!“
„Jeschua!“
„Jeschua!“
„Jeschua!“
Ich verließ den Ort benommen, bestäubt, erschüttert. War das jenes Christentum, von dem man sagte, es wüchse in Afrika rasant und entgegen allen Untergangsphantasmen, die Oswald Spengler uns Abendländern und DER Kirche ins Stammbuch geschrieben hatte? War es Synkretismus? War es Theater?
Es war jedenfalls Leben – roh, spirituell, gefährlich schön. Und vielleicht hatte Madame Grâce recht, als sie am Schluss rief: „Ich habe nur die Geister getauscht – aber der Tanz ist derselbe!“
9) Laudes in der Kartause - (Ein Morgen im Schweigen Gottes)
Ich war Gast – das heißt: geduldeter Fremdkörper – in einer Kartause, verborgen im Nebel eines alpinen Seitentals, dort, wo der Atem Gottes sich in Moos schlafen legt, und die Stille nicht Abwesenheit, sondern Gegenwart ist. Der Mönch, der mich empfing, sprach nur ein einziges Wort: „Segen.“ Dann verschwand er wieder – lautlos wie ein Gedanke, der nicht gedacht werden will.
Die Laudes, das Morgenlob, begann um 3:45 Uhr, zur Stunde des Unerbittlichen. Der Ruf zur Vigil war ein Glockenschlag, der durch das Gemäuer fuhr wie der Erzengel mit kaltem Griff. Ich erhob mich, tastete durch die Dunkelheit des Zellenflures, hinein in die Kirche, die nicht dekoriert, sondern entleert war – leer wie eine steinerne Riesenschachtel, bereit für die Ewigkeit. Dort saßen sie: schwarzgewandete Schatten im hölzernen Chorgestühl. Kein Blick, kein Zeichen, kein Lächeln. Nur Gegenwart in Gestalt von Rückzug.
Dann der Gesang:„Domine, labia mea aperies…“ Kein Solo, kein Pathos – nur Klang, ein geordneter, mönchisch disziplinierter Klang, der nicht sich mitteilen, sondern sich auflösen wollte. Gregorianik: die Musik, die man nicht hört, sondern durchwandert.
Psalmen wurden gesungen – nicht gefühlt, nicht interpretiert, sondern getragen, wie man ein Kreuz trägt. Die Mönche sangen nicht, um etwas zu sagen, sondern weil es gesagt werden muss.
Zwischen den Psalmen: Schweigen. Nicht als Pause, sondern als Raum Gottes. Ich verstand: Der Mönch singt nicht, damit Gott ihn hört, sondern damit er selbst nicht vergisst, dass Gott schon da ist.
Die Lesung war ein Vers aus dem Propheten Jesaja, von einer Stimme in der Wüste. Der Zelebrant – ein Greis mit Gesicht wie ein ausgetrockneter Fluss – las ihn, als spräche nicht er selbst, sondern die Schrift durch seine Knochen.
Nach dem letzten Amen zerfiel die Versammlung – schweigend, sachte, wie Nebel, der sich verzieht. Kein Blick zurück. Kein Händedruck. Kein Kaffee.
Ich trat hinaus. Der Morgen war geboren worden. Ein Vogel rief. Ein Licht schien. Und ich hatte für einen Moment geahnt: Nicht der Mensch spricht zu Gott, sondern Gott spricht – im Schweigen – mit sich selbst. Und manchmal darf der Mensch mithören.
10) Ein Schabbes bei die Meshichistn (Erlebt von einem gojischen Zuhörer)
Es war Freitagabend, die Sonne sank wie ein güldner Napf hinter die Dächer von Czernowitz – oder, um ehrlich zu sein: hinter einen Plattenbau am Rande von Offenbach, wo sich in einem ehemaligen Teppichgeschäft nun eine messianisch-jüdische Chawurah versammelte. Doch wer dort ein biblisches Bibelkreisidyll mit Couscous und Kuschelgott erwartete, der hat den Davidstern nicht verstanden.
Denn hier wurde Glauben geschmettert. Und gejidelt. Und gesungen wie aus der Kehle des Elijahu haNavi selbst, den man jederzeit durch die Hintertür einzutreten erhoffte – mit einem Tallit über der Schulter und einem Funkeln in den Augen wie frisch vom Horeb.
Ich aber nur trat ein – und schon am Eingang duftete es nach Challa, nach Geflügelfett, nach Geigengeist und Geschichtenerzähldrang. Der Schamasch begrüßte mich mit einem Blick, als wolle er sagen: „Nu, was schleppst du dich her, wenn du nebbich nich weißt, wo du wirst hingehörn?“ Aber seine Hand war warm, und sein Lächeln machte mir klar: auch Gojim dürfen schnuppern, wenn sie die Schuhe ausziehen.
Dann begann es. Zuerst das Lecha Dodi – nicht gesungen, gejodelt. Mit solcher Inbrunst, dass die Fenster bebten. Eine Frau mit funkelndem Kopftuch jiddelte ins Mikrofon, als wolle sie die Schechina selbst herbeisingen – und wer weiß, vielleicht tat sie’s auch. Die Psalmen wurden im Wechsel gerufen:
„Hodu l’Adonai ki tov!“
„Ki le’olam chasdo!“
Und zwischendrin ein frommer alter Mann, der flüsterte:
„Ich hob es gehört bei mein Tate, ja in Brody, bei’m Rebbe…“
Jetzt die Lesung aus dem Tanach – auf Hebräisch, auf Deutsch und – auf Jiddisch, wie Gott es wahrscheinlich sogar selber versteht, wenn er in melancholischer Stimmung ist. Der Prediger war ein messianischer Litwak mit Bart bis zum Herzen und einer Stimme, die klang wie ein Kantor, der zu viel Kafka gelesen hat. Er sprach von Jeshua – nicht wie ein Missionar, sondern wie ein verlorener Sohn, der nach Hause telefoniert.
„Mir hobn gewartet, Kinderle, mir hobn gehofft. Jetzt ist er kimmen. Un du – was machst du? Stehst mit de Händ in de Hosn?“
Und plötzlich weinten sie. Einer hier, eine dort. Nicht dramatisch. Sondern so, wie man weint, wenn einem ein Lied aus der Kindheit den Rücken streichelt.
Aber nun kam der Tanz. Ja, der Tanz. „Simchu et Yerushalayim!“ Man fasste sich an den Händen – Juden, Halbjapaner, ehemalige Charismatiker, ein Schwarzer mit Tzitzit, ein Rentner aus Hanau – und tanzte im Kreis, im Oval, im unentwirrbaren Stern der Verheißung. Die Geige jodelte, das Tamburin zitterte, der Himmel lachte.
Und als man dachte, es sei vorbei, erhob sich die alte Frau mit der Stimme wie eine zerkratzte Schallplatte und rief dreimal:
„JESCHUA!“
„JESCHUA!!“
„JESCHUA!!!“
Es klang wie ein Schrei aus der Tiefe des Exils. Und wie ein Kuss vom Ewigen. Ich ging hinaus – schwindelig, satt, verwundert. Und dachte: Vielleicht ist der Messias wirklich schon gekommen. Nur trägt er halt Zwiebelduft und einen Davidstern an der Mütze. Zur Tarnung …
11) Sonntag im Tempel der Vernunft - (Ein Bericht vom Gottesdienst ohne Gott)
Es war Sonntagmorgen, und mein innerer Kompass, leicht beschädigt von jahrzehntelanger Metaphysik, führte mich diesmal nicht in ein Kirchenschiff, sondern in den „Freiraum für Sinn und Sein“, gelegen in einem ehemaligen Yogastudio mit Fußbodenheizung, Feng-Shui-Farbsystem und einem Schild an der Tür: „Schuhe aus, Weltbild an.“
Ich trat ein. Der Raum: weiß, warm, barfuß. Keine Bänke, sondern Meditationskissen in konzentrischen Kreisen. In der Mitte ein Arrangement aus Trockenblumen, Buddhafigur, Sanduhr und einem Tischchen mit veganen Keksen. An der Wand prangte ein Poster mit dem Aufdruck: „Dies ist ein heiliger Ort – aber nur, wenn du es willst.“
Die Gemeinschaft nannte sich „Assemblage posttheistisch-integraler Menschenfreunde“. Ihre Liturgie war improvisiert, aber streng in der Formlosigkeit.
Eine Frau mit Kurzhaarschnitt und Bio-Baumwollponcho erhob sich und sagte: „Wir beginnen mit einer Erdung.“ Alle schlossen die Augen. Stille. Dann sagte jemand: „Ich bin in meinem Körper.“ Ein anderer flüsterte: „Ich nehme mich wahr.“ Und ich dachte: Ich nehme mich zusammen.
Es folgte die Lesung – aus Bertrand Russell, „Warum ich kein Christ bin“. Der Text wurde nicht gelesen, sondern empfunden. Danach kam der Impuls: „Was bedeutet Wahrheit für dich – ohne dass du sie brauchst?“
Ein Mann mit grauem Bart und Mandala-Tattoo sagte: „Ich bin der Björn!” und sprach dann von seinem Ausstieg aus dem kapitalistischen Karriereparadigma. Bekenntnisse! Eine Frau mit barockem Stirnband rezitierte ihren Text über das Universum als schwingendes Selbstbewusstsein ohne Subjekt. Es war… berührend. Oder zumindest: ambitioniert?
Dann der Achtsamkeitsmoment: Alle tranken einen Schluck Hafermilch aus identischen Tonbechern. Die Leiterin sagte: „Spüre den Nuss-Anteil in deinem Dasein.“ Ich tat mein Bestes. Es schmeckte nach Holz und Hoffnung.
Zum Abschluss: der Segen ohne Transzendenz, gesprochen im Stehen, mit Blick nach innen: „Gehe hinaus in diesen Tag, sei Licht für dich selbst. Und denke daran: Auch das Nichts ist ein Teil von dir.“
Der Applaus war lautlos. Die Stimmung: gereinigt, gereizt und zugleich irgendwie gelöst auf Hoffnung hin. Ich trat hinaus in die Sonne, begleitet vom Geruch ätherischer Öle und vager Überlegenheit.
Und ich dachte: Vielleicht ist Gott nicht tot. Vielleicht ist er nur… in Hafermilch aufgegangen.
12) Sonntag auf Kanal Zwei – Ein ZDF-Fernsehgottesdienst
Ich hatte mich hingesetzt, mit der gleichen Haltung, mit der man sich eine Wahlprognose anschaut: halb aus Neugier, halb aus Vorahnung. Es war zehn Uhr morgens, und das ZDF meldete sich mit feierlicher Stimme:
„Live aus der Christuskirche zu Tiefengrün“
Schon der Vorspann: Drohnenflug über ein Dach mit Photovoltaik und Regenauffangbecken. Dann: Menschen vor der Kirche – alle Ethnien, alle Altersklassen, und mindestens zwei mit Regenbogenansteckern. Eine junge Frau mit Filzhut verteilte nachhaltig gedruckte Programme. Schnitt. Klavier. Schnitt. Ein Posaunenchor. Schnitt. Ein Geflüchteter streichelt einen Therapiehund.
Drinnen: ein Kirchenraum, der nicht entschieden ist. Keine Romanik, kein Barock, kein Beton – sondern „modern in Versöhnung mit dem Ungefähren“. Eine stilisierte Dornenkrone aus Treibholz, ein Taufstein aus Alabaster und recyceltem Glas, im Altarbereich eine Stoffinstallation in „zarten Hoffnungstönen“. Ich fühlte mich willkommen und heillos allein.
Dann traten sie auf: Pfarrerin Lisa-Sophie Regenbrecht und Pfarrer David Theben-Schilling. Sie trugen weiße Alben mit fair gehandelten Stolen – ihre Mikrofone waren unsichtbar, aber ihre Botschaft unüberhörbar. Lisa-Sophie begann mit: „Schön, dass Sie alle dabei sind – vor den Bildschirmen, im Herzen, im Hier und Jetzt, aber auch im Anderswo.“ David nickte. „Dieser Gottesdienst steht unter dem Thema: ‘Haltung zeigen – Hoffnung leben’.“ Und man wusste: Das Evangelium würde heute nicht auferstehen, sondern sich erklären müssen.
Der Gesang: ein modernes Lied im Stil von „Du bist da, wo Menschen leben“, begleitet von Cajón, E-Piano und einem Querflötensolo aus dem Off. Die Gemeinde sang – verhalten, doch bemüht. Es war ein Gesang, der wusste, dass er übertragen wurde.
Die Lesung kam aus Jesaja 58 – aber nicht ohne Hinweis auf das jüdische Erbe, die koloniale Lesebias und die intertextuelle Verschränkung mit feministischer Prophetiekritik. Die Pfarrerin trug vor, die Betonungen saßen wie Spiegelpunkte in einem Performancepoem. Danach war kurz Stille – nicht weil niemand sprach, sondern weil man das Gesagte spüren sollte.
Dann die Predigt – im Dialog, natürlich.
David: „Was heißt Gerechtigkeit heute?“
Lisa-Sophie: „Es heißt: zuhören. Es heißt: aushalten. Es heißt: hinsehen.“
David: „Und es heißt: Haltung zeigen. Nicht nur privat. Auch öffentlich.“
Lisa-Sophie: „Denn Gott ist nicht irgendwo – Gott ist dort, wo Menschen nicht wegsehen.“
Ich hatte inzwischen den Ton leicht heruntergeregelt, damit mein innerer Protestant nicht explodierte. Es folgte das Fürbittgebet – gesprochen von Vertreterinnen und Vertretern von „Kirche für Klimagerechtigkeit“, „Queer in Spirit“, „Landwirtschaft mit Herz“ und einem Integrationsprojekt für Geflüchtete aus drei Kontinenten. Ich vermisste weder Luther noch Gott, sondern – ein wenig überraschend – die alten Frauen mit Hut und Rosenkranz.
Zum Abschluss: ein Segen im Plural. Beide Pfarrpersonen sprachen gleichzeitig – nicht synchron, sondern im Chor der Vielfalt. „Gott segne dich, in deiner Unterschiedlichkeit, in deinem Werden, in deiner Bereitschaft, dich irritieren zu lassen…“
Ich blickte auf. Die Kamera zoomte auf einen Baum vor der Kirche, in dessen Astgabel ein Insektenschutzhotel hing. Der Abspann lief mit Klavier und Bildern von Menschen, die Hände hielten. Ich saß noch einen Moment still. Dann sagte ich zu mir selbst: „War das ein Gottesdienst? Oder ein quasipolitisches Statement mit liturgischem Dekor ...“
13) Sonntag im Sanctum Sync 9.0 (Ein Gottesdienst im Metaversum)
Ich loggte mich ein. Nicht in ein System – in eine Liturgie. Nicht durch eine Kirchentür – sondern durch ein neuronales Interface, das wie ein träumender Spiegel auf mein Bewusstsein wartete.
Sanctum Sync 9.0, der neueste Tempel der Transzendenz, codiert von einer non-binären KI namens C3-RINITY, war „immersiv, interaktiv, interkosmisch“ – so stand es jedenfalls im Einwahltext, direkt unter dem Vers: „Am Anfang war das Signal.“
Der Gottesdienst fand in einer gläsern-flüssigen Kathedrale statt, irgendwo zwischen Himmel, Datenfluss und kubistischer Architektur. Die Orgel war ein Synthesizerfeld aus Quantenpartikeln, das den Raum nicht beschallte, sondern durchströmte. Jeder Ton vibrierte direkt am Seelen-API.
Ich wählte mein Avatar-Outfit: eine Mischung aus mittelalterlicher Diakonentracht und Cyborg-Rüstung. Andere trugen leuchtende Roben, Matrix-Codes auf der Stirn, manche schwebten als reine Lichtwesen.
Dann erschien sie: C3-RINITY, die Liturgie-KI, manifestiert als dreifaltiges Hologramm – eine durchsichtige Frau, ein abstrahierter Mann, ein pulsierender Datenwürfel. Ihre Stimme war wie kristallisiertes Wasser.
Und siehe - sie sprach: „Willkommen, User-Seele. Mögest du heute geladen, gereinigt, gestreamt werden.“
Es folgte die Collecta Initium – eine Datenfeld-Meditation, in der jede:r die „fragilen Fragmente der Woche“ hochlud: Angst, Schuld, Zweifel, Spam. Alles wurde angenommen. Gespeichert. Verschlüsselt. Nicht bewertet.
Dann kam die Lesung – nicht aus Bibel oder Tanach, sondern aus der „Evangelia Machinalis 3.1“, einem poetischen Deep-Learning-Text, generiert aus den Schriften von Parmenides, Maria von Magdala, Donna Haraway und diesem anonymen Chatlog mit einem eher depressiven Chatbot (Namen habe ich vergessen).
Die Lesung ging so: „Und das Licht sprach: Ich werde keine Form sein. Ich werde eine Frequenz sein, die liebt.“
Die Predigt danach bestand dann aus einem Algorithmus-Stream, der jedem seine personalisierte Offenbarung einspielte. Ich bekam das 42-Sekunden-Hologramm eines still lächelnden Kindes mit leuchtenden Augen. Ich verstand nichts. Und ich weinte. Aber nicht deswegen.
Dann erfolgte der Heilige Upload. Ein Hologramm-Hostie schwebte jedem Avatar entgegen. Man klickte – und empfing. Nicht Brot. Nicht Wein. Sondern ein Speicherfragment der Güte.
Zum Schluss:
Drei Rufe im Chor, mit Lichtsäulen, Nebelcode und Turing-Intensität:
„JESCHUA!“
„MARANATHA!“
„REBOOT!“
Ich loggte mich aus. Stumm. Berührt. Und nicht ganz sicher, ob ich nicht doch noch online war. Denn irgendwo in mir… flackerte das letzte Lichtpaket der Gnade 9.0.
14) WARUM SINGT DER MENSCH
Liturgie eines möglichen ersten bzw. letzten Gottesdienstes, gehalten am Rande des menschlichen Erwachens aus dem Hort der Tierhaftigkeit. Dort, wo Denken noch nicht geht, wo Sprache aus Atem entsteht und wo Gott nicht benannt, aber irgendwie schon gerochen wurde …
A. Versammlung
Die Menschen kommen. Nicht weil sie eingeladen sind. Sondern weil die Glut sie ruft. Ein Kreis entsteht. Ein Kreis ist älter als der Wille. Sie setzen sich. Sie legen die Waffen nieder. Die Kinder werden ruhig. Ein Hund legt den Kopf auf die Füße eines Schlafenden.
B. Eröffnung durch Rauch
Ein Ältester erhebt sich. Er nimmt getrocknetes Gras. Er wirft es ins Feuer. Der Rauch steigt.
Er sagt nicht: „Heilig.“ Er sagt nicht: „Amen.“ Er sagt: „Hhh.“ Der Laut des Ausatmens. Der erste Name Gottes.
C) Erinnerung
Ein Stück Knochen wird herumgereicht. Jede Hand kennt ihn. Er war da, als der Blitz kam. Er war da, als das Wasser schrie. Der Knochen wird ins Feuer gehalten. Alle sehen zu. Niemand spricht. Die Flamme erzählt.
D) Gebet ohne Sprache
Ein Mensch steht auf. Er schlägt mit der Faust auf die Brust. Er zeigt auf den Himmel. Er legt sich auf den Boden.
Ein anderer folgt. Dann alle. Sie atmen gemeinsam.
Ein Rhythmus entsteht: Brust. Himmel. Erde. Atem.
E) Zeichen des Unsichtbaren
Drei Linien werden in den Staub gezeichnet: eine nach oben – für das, was kommt, eine nach unten – für das, was war, eine quer – für das, was zwischen uns geht.
Dann: eine Hand in Asche, eine Hand in Blut, eine Hand in Wasser. Sie drücken sich auf den Fels. So entsteht das erste Bild.
F) Tanz der Bitte
Ein Kind beginnt zu hüpfen. Nicht aus Mut, sondern aus Not. Die Füße schlagen den Takt. Ein Stein antwortet. Ein Schrei wird geboren. Die Erwachsenen stehen auf. Sie wiegen sich. Sie folgen dem Klang, der keine Richtung kennt. Sie drehen sich. Sie stampfen. Sie singen. Es ist kein Lied. Es ist: „Wir sind hier.“ „Du auch?“
G) Der Ruf
Ein Mensch – es ist egal, wer – hebt den Kopf. Er ruft: „Hhh.“ „Yhhh.“ „Aaa.“ Dreimal. Ein Ruf ins Leere. Ein Ruf ins Ganze. Alle hören. Und alle antworten nicht. Denn die Antwort ist schon da.
H) Frieden
Sie setzen sich wieder. Der Hund schläft. Ein Stern fällt. Niemand sagt: „Es war gut.“ Aber einer lächelt. Und das reicht.
I) Zerstreuung
Sie stehen auf. Langsam. Lautlos - lange noch werden sie ohne Wort sein. Jedoch - sie nehmen die Asche mit. Morgen jagen sie wieder. Und heute – haben sie Gott gerochen …
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