der Eisvogel
Geburtstagsgabe (vierter Exkurs)

Ein Eisvogel sitzt an Werners Fenster. Er kann Gedanken lesen und die Zukunft kennt er auch. Heute ist der Tag, den sie früher Sonntag nannten. Da sitzt der Eisvogel und hält seine Andacht, indem er Werner beim Lesen zusieht und sich unerkannt in dessen Gedanken versenkt. So wird es Zukunft. Lest mit ...

Werner (53) blättert um. Den nächsten Satz will er noch lesen: „Von jener Zeit an begann Jesu zu predigen und zu sagen: Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen! (Mt 4,17)“. Werner denkt nach. Tut Buße. Man könnte gleich morgen das elende Knochenpflaster auf dem Hof rausreißen. Mit Grünkern würde ich anfangen. Dann Topinambur und Kartoffeln. Strom? Vielleicht Öllämpchen aus dem Raps hinterm Schuppen. Am Tage gibts das Licht frei. Der alten Sonnenscheibe können sie nix tun. Im Brunnen auf dem Grundstück hängt ein Eimer. Der Gashahn ist schon lange verblombt. Damit hab ich Schluß gemacht. Ihr sogenanntes Fernsehen und der Staatsfunk vergiften mich nicht mehr. Heizen mit Reisig - okay. Und drei Pullover übereinander, die werden im Sommer gewaschen. Ihr Scheißgeld will ich nicht mehr. Kann sein, dass der Gen-Mais-Konzern 20 Meter neben meiner Hütte Kohle sehen will. Weil meine Pflanzen von ihren Pollen befallen werden! „Verbesserung Deines Ertrages“ sagen sie dazu. Unverschämt. Ich nenne es „Gotteslästerung.“ Wer hat da Recht? Ich - aber eben nur vor Gott. Wir schreiben den ersten Januar des Jahres zweitausendundachtundfünfzig.

Die Formulare der Behörden verstehe, wer will. Dafür kann ich die Sprache der Tiere. Neulich morgens war plötzlich der wieder der Eisvogel da und saß lange bei mir am Fenster. Hat mich voller Kraft angeblickt. Dann ist er leise wieder fort. Auch er wartet auf den Tag. „Recht so, Bruder“ hat er gesagt. Den Chip, der mich ständig den verfluchten Satelliten verrät, hab ich mir am selben Tag noch rausgerissen. Es hat weh getan und ich bin dabei fast krepiert. Aber seitdem geht es besser. Die Kopfschmerzen sind endlich weg. Ja, man könnte ihnen schon trotzen. Der alte Priester weiß davon. Doch er verrät uns nicht. Im Keller lesen wir zusammen das Buch, ein Mann namens Luther hat es übersetzt in das liebe Deutsch. Da steht was drin. Jesus hat sich, nachdem er den Teufel durchschaut hat, auch erst mal zurückgezogen - Matthäus 4,12. Auf dem Hügel vor dem Dorf liegt immer noch der riesige Findling. Wir haben die Buchstaben IHS reingeritzt. Mit dem Akkuschleifer von Boris. Niemand ahnt etwas – bisher. Wenn Sonntags die Sonne aufgeht, treffen wir uns dort. Wir nennen uns Verschwörungskünstler. Die Zeiten sind unsicher. Deshalb summen wir nur. Und sind stille nach dem, der da kommen soll. Alle sagen zwar, man brauche das üble Zeugs aus den Katalogen. Und viele meinen, wenn das hier zusammenbricht, wird es jeden mitreißen in den Abgrund. Doch wir sind stolz darauf, lange vorher davon frei gewesen zu sein.

Werner (53) reißt sich los und klappt das Buch zu. Langsam fährt er in die gelbe Plastikjacke. Es ist Sonntag und 04.00 Uhr früh. Er wird jetzt die bunten TOP-HiT-Werbungszettel der Weltregierung austragen. Das widert ihn zwar an. Aber er lebt davon, was anderes haben sie ihm nicht gelassen. Das alte Buch aber nimmt er mit. Immer. Beim Lesen muß er tief Luft holen. Denn vieles stimmt. Das Buch macht grimmig. Macht froh und macht stolz. Macht stark und gewiß. Ruhig, sicher und richtet auf. „Tut Buße, das Himmelreich ist nahe herbeigekommen!“ denkt Werner.

Ziphora - der Eisvogel
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Autor:

Matthias Schollmeyer

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