These 96
                        ECCLESIA SEMPER REFORMANDA
        
    
                                                                                                
        
        
        
                    
                                    
    
                                                                                                
        
        
        
                    
                    
        
    
                                                                                                
        
        
        
                    
                                    
    
                                                                                                
        
        
        
                    
                                
        
    
                                                                                                
        
        
        
                    
                                    
    
                                                                                                
        
        
        
                    
                                                 
                        - Der protestantische Theologe Doktor Martin Luther im Gespräch mit einer Gottesanbeterin vor dem Hintergrund des Petersdoms, dessen Tür ein wenig so aussieht, als wäre es die Schwester der Thesen-Tür der Schlosskirche Allerheiligen zu Wittenberg. (Bild Erstellung durch ChatGPT 5).
- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Der fromme Rest und warum der Osten ganz leicht zu verstehen ist …
Es würde zu den eigentümlichen institutionellen Selbsttäuschungen gehören - hoffentlich nicht bei den Kirchenleitungen -, zu glauben, man spräche für die Gläubigen, indes man in Wahrheit längst nur über sie spricht. Alles Konjunktiv also … Aber - während in den westdeutschen Synodensälen die Sprache wohlmeinender Progressivität gepflegt wird – geschlechtergerecht, klimakompatibel, transinkludierend – sitzen in den Dorfkirchen z.B. Sachsen-Anhalts Menschen, die diese Predigten allenfalls über den WDR empfangen. meist älter Männer mit stoischem Blick, Frauen, die noch wissen, was Kartoffellesen bzw. Rübenverziehen ist und Enkel von Leuten, die nie in den Westen wollten, weil sie wussten, dass man dort den Dialekt verlernt. Sie nicken, wenn man vom Frieden spricht - und wählen AfD.
Das ist zwar längst kein Geheimnis mehr, die Rede darüber aber - ist immer noch tabuisiert.
Nach  jüngsten Erhebungen liegt der AfD-Anteil bei den Wählern in Sachsen-Anhalt bei rund vierzig Prozent. Was ist da passiert? Und was bedeutet das für die Kirche? Statistisch betrachtet wäre es zu vernachlässigen – denn kaum jemand (warum eigentlich nicht?) erhebt bisher Zahlen darüber, was die Kirchenmitglieder selbst wählen. Aber theologisch betrachtet bedeutet es sehr viel - und eigentlich alles. Denn wer von christlicher Verantwortung redet, darf nicht blind sein gegenüber den politischen Psychogrammen der eigenen Herdenmitglieder.
Die nüchterne Wahrscheinlichkeit lautet: Wenn vierzig Prozent der Bevölkerung blau wählen, dann dürften auch mindestens rund ein Drittel bis zwei Fünftel der verbliebenen Kirchenmitglieder dasselbe tun. Die evangelische Landeskirche des Ostens besteht heute aus etwa dreizehn Prozent Restbevölkerung – meist über sechzig, meist ohne Hochschulabschluss, meist in ländlichen Gebieten. Also aus genau jenen sozialen Gruppen, die in der politischen Realität die tragenden Säulen der AfD sind. Das muss man nicht skandalisieren, aber begreifen.
Denn dieser Rest ist kein „rechter Rand“, sondern der Kern der alten Volkskirche: traditionstreu, autoritätsbewusst, mit einer beinahe sakralen Sehnsucht nach Ordnung. Es sind Menschen, die das Evangelium nicht als moralisches Manifest für globale Gerechtigkeit lesen, sondern als Hausordnung für das Dorfleben. Ihre Religion ist keine kluge Metapher, sondern eine immer noch plausible Lebensform – und sie spüren instinktiv, dass die Kirche, die sie einmal trug, sich in eine akademische NGO verwandelt hat, die aus sicherer Distanz belehren will.
Wenn die EKD also erklärt, eine Zusammenarbeit mit der AfD sei „undenkbar“, dann hat sie aus der Sicht ihrer Federführer zwar in gewisser Hinsicht Recht – aber sie verwechselt den Feind. Der Feind ist nicht der Wähler, sondern die Entfremdung, die ihn hervorbringt. Die Kirche ist im Osten keine Gegenkultur mehr, sondern eine leere Kulturform, in der die politische Emotion der Verlassenheit weiterarbeitet. Theologen nennen das residuales Christentum: die heilige Hülle ohne Füllung. Und aus dieser Hülle spricht der Zorn.
Man könnte das natürlich erforschen, statistisch sauber und mit soziologischer Eleganz – aber man tut es nicht, vielleicht, weil man ahnt, dass die Ergebnisse niederschmetternd wären. Denn in der Summe zeigt sich: Je schwächer die Institution, desto stärker die lokale Identität; je leerer die Kirchenbänke, desto lauter die politische Ersatzliturgie auf den Marktplätzen. Das Problem ist also nicht die AfD, die etwa in die Kirchen dränge, sondern die Kirchenmitglieder, die sich von ihrer eigenen Institution politisch verlassen fühlen. Man kann ihnen das übel nehmen – oder man kann anfangen, sie endlich wieder zu hören.
Vielleicht sollte die Kirche den Mut haben, ihre eigene Statistik zu befragen: Wer lässt sich noch in der Kartei finden und wer eigentlich sitzt da noch auf den Holzbänken? Welche Stimmen, welche Biographien, welche Ängste? Denn solange die Kirche ihre eigene Basis nicht empirisch versteht, bleibt sie ein Projektionsraum für fromme Illusionen - moralisch zwar erhaben, aber gesellschaftlich u. U. in der Gefahr von heute auf morgen - bedeutungslos zu werden.
Das Evangelium, so könnte man sagen, war immer schon ein Programm der Inkarnation: Das Wort wird Fleisch – nicht Papier. Und Fleisch ist widersprüchlich, verletzlich, zornig, unbelehrbar. Vielleicht ist der ostdeutsche Christ, der AfD wählt, nicht das Ende der Kirche, sondern ihr Spiegel: eine Erinnerung daran, dass Glauben nie sauber war, sondern immer ein Ringen zwischen Himmel und Erde.
Hypothese: In Sachsen-Anhalt liegt die AfD-Affinität unter Kirchenmitgliedern nicht signifikant unter der Gesamtquote; 35–40 % wären gut begründbar. Der Arbeitsauftrag ist also: Erheben, auswerten, veröffentlichen. Dann reden. Wer das für „provokant“ hält, verwechselt Therapie mit Tabu. Zahlen sind keine Gegner; sie sind die einzige Sprache, in der die verlorene Wirklichkeit versucht, zuverlässig zu uns zu sprechen...
| Autor: Matthias Schollmeyer | 
 
     
                        
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