Wie gemacht für Reformationstag
Gott-Rednerinnen und Gott-Künder

Die Regionalbischöfin Bettina Schlauraff spricht in ihrer Festpredigt von vier Menschen, die sie besonders berührt haben: "Sie erzählen mir von Gott, was ich in keinem Buch lesen könnte." | Foto: Viktoria Kühne
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  • Die Regionalbischöfin Bettina Schlauraff spricht in ihrer Festpredigt von vier Menschen, die sie besonders berührt haben: "Sie erzählen mir von Gott, was ich in keinem Buch lesen könnte."
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Aufs Maul geschaut: In der Predigt zu ihrer Einführung als Regionalbischöfin für den EKM-Nordsprengel im Magdeburger Dom betonte Bettina Schlauraff in guter lutherischer Tradition das Priestertum aller Gläubigen. Wir drucken hier ihre Predigt aus dem Festgottesdienst, der der Bibeltext aus Nehemia 8 zugrunde liegt.


Der Theo-loge Hans
Ruhig liegen seine schlanken Hände auf dem alten Tisch. Er atmet ruhig. Sein Haar ist schütter geworden. Aber seine Stimme ist so warm und klar wie seit eh und je. Seine Augen liebevoll und aufmerksam. Seine Statur groß und aufrecht. Sein Gesicht wettergegerbt. Er strahlt etwas aus, das ich als große Würde empfinde. Die Menschen im Dorf schätzen ihn. Sie fragen ihn um Rat. Hans ist Landwirt. Und er ist Christ. Das wissen die Menschen nicht nur, sie haben es erfahren – in seinem Zuhören und Helfen, in seinem ermunternden Nicken.
Nun sitzt Hans am Tisch in der kleinen Winterkirche, seine Hände ruhen. Er wird still und innig. Wir sind nur fünf oder acht. Brot und Wein geben wir herum. Mit Ehrfurcht und glänzenden feuchten Augen reicht er mir das Brot – die Augen voll lebenslang gelebtem Glauben. Er nickt sein ermunterndes Nicken. Nimm und iss. Wir sind beide berührt. Würdest du mich fragen, würde ich sagen: Gott war da in dem Moment, zwischen uns, in den Worten „Nimm und iss“.

Der Theo-loge Emil
Vier Stühle. Vier Menschen. Mehr sind wir hier nicht. So sitzen wir dicht vor dem Altar der alten kleinen romanischen Kirche. Wenn die ersten Orgeltöne erklingen, dann schließt er die Augen. Die Musik ist in ihm und er in der Musik. Das Gesangbuch schlägt Adelheid ihm auf, denn seine unfassbar großen Hände sind etwas steif von der schweren Arbeit. Emil ist 99 Jahre alt und steht jeden Tag noch in seinem Garten. Sein Lebensweg ist unbeschreiblich: Flucht und Vertreibung, Stalingrad und Sibirien. Dazwischen hat Gott ihn gefunden.
Nach seinem Tod wird man überall in seinem Haus winzige Zettel mit Bibelsprüchen finden. Und immer fragt er mich sonntags, wo denn die anderen Menschen sind, sie bräuchten doch auch Gott. Aber das Erstaunlichste geschieht, wenn wir singen. Emil holt tief Luft, und dann erklingt die zarte Tenorstimme eines 20-Jährigen aus dem Körper des fast 100 Jahre alten Mannes. In jedem dieser Töne ist, würdest du mich fragen, ein Stück Himmel. Eingelebt. Eingewebt. Eingeatmet.

Die Theo-login Doris

Gleichförmig gemusterte Bettdecken. OP-Hemden. Infusionsständer. Sauerstoffschläuche. Bettpfannen. Rollstühle. Gemurmel und Schreie. Lachen und Scheppern. Die Krebsstation. Nach Doris muss ich nie lange suchen. Sie ist dort, wo Menschen lachen. Wo welche in der Tür stehen, nur um sie zu hören und etwas von ihrem Lächeln mitzunehmen. Doris ist da, wo auf Bett und Nachttisch Farben stehen und auf den Fensterbänken bunte Bilder. Bilder voller Leben und Farbe. Das ist meine Therapie, sagt die ehemalige Lehrerin zu mir und lächelt mich mit leuchtenden Augen unter dem Kopftuch an.
Doris ist hier Patientin. Niemand aus den Nachbarzimmern geht ohne ein Bild von ihr. Sie malt im Krankenbett Blüten und Schmetterlinge, Murmeln und Häuserzeilen. Sie ist ein Licht inmitten von schweren Diagnosen und Angst und Bitternis. Auf dem Weg, den wir beide gemeinsam gehen, ist sie die Botin von Gottes Zartheit und tief versteckter Liebe. Am liebsten malt sie Flügel und Leichtes. Mit Buntstiften oder Pinsel. Würdest du mich fragen – es ist, als malte Gott aus ihr heraus mit Lebensfarben.

Der Theo-loge Paul

Es ist Schulanfangsgottesdienst, und vorne am Taufstein sitzen wir auf einer Picknickdecke, ich im Talar und alle Kinder, die da sind. Die Eltern schauen zu. Einer spielt den Engel, und wir alle spielen zusammen Elia. Wie er ängstlich sich versteckt und einfach schläft, statt weiterzugehen. Wie der Engel ihn zweimal wecken muss. Wir holen Brot und Melone und essen wie Elia, den Gottes Engel gestärkt hat – in einem schwierigen Moment. Bald geht für die Kinder die Schule los und wir sagen, dass Gott sie stärken wird, auch wenn es mal schwer wird. Mittendrin muss ich immer wieder in die Augen von Paul gucken.
Erst vor wenigen Tagen haben wir hier sehr traurig gesessen und einen letzten Abschied gefeiert. Paul war auch da. Sein großer Bruder Hannes hatte sich mit 16 Jahren das Leben genommen. Schlimme Tage für Pauls Familie. Und jetzt sitzt er da, mit uns auf der Decke, mit seinen großen Augen, mit seinen 6 Jahren. Und als ich sage, dass Gott dabei sein wird in dem, was jetzt kommt, und ihn stärken wird, da strahlt er mich an – voll tiefen Vertrauens. Ich sehe: Er hat keinerlei Zweifel daran, dass Gott für ihn da ist. Würdest du mich fragen – Gott war für uns alle in diesem Moment in Pauls Augen.

Hans und Emil. Doris und Paul, sie waren bekümmert. Aber Gott war ihre Stärke. Sie sind in meinem Leben meine Lieblingstheologin und -theologen. Der Wortbedeutung nach Gott-Rednerinnen, Gott-Künder, Gottes Wort. Sie erzählen mir von Gott, was ich in keinem Buch lesen könnte. Sie werden für mich zu einem ganz besonderen Wort Gottes – weil sie sich tief haben berühren lassen von Gottes Gegenwart.
Die Bibel erzählt im Buch Nehemia davon, wie Gottes Wort einen ganzen Platz voller Leute bis ins Herz getroffen hat:
Einmal war das Volk Gottes für lange Zeit herausgerissen worden aus seinem normalen Alltag und Leben, aus allem Vertrauten. Unbekanntes Leben, soweit der Himmel reichte. Verhältnisse, die sie nie gekannt hatten. Viele Jahre lang. Entrissen und entwurzelt.
Ihre Welt hatte sich verschoben. Dann wurde es Zeit, das fremde Leben zu beenden und wieder zurückzu-kommen in das Leben, das sie kannten. Einiges war kaputtgegangen in dieser Zeit. Sie mussten sich zusammentun, um die Spuren dieser Zeit zu überwinden.
Einige fassten mit an, einige spendeten, einige verzichteten, einige brachten Ideen, einige gingen voran. Und schließlich war vieles wieder so wie vorher. Manches war ganz anders geworden, aber sie hatten wieder den Alltag, wie ihn ihre Familien immer geliebt hatten, und konnten wieder wohnen und miteinander leben.
Und nun, wo ihr Körper und ihre Sinne gesättigt waren, auch etwas müde, kamen alle am Platz vor dem Wassertor zusammen. Das Volk Israel war wieder zurück in seinem Land. Jerusalem war wieder bewohnt und sicher nach langer Zeit im Exil. Eines aber fehlte noch.
Sie hatten eine große Bühne gebaut. Sie waren bewegt und aufgeregt. Männer waren da und Frauen und viele junge Menschen, so wird es erzählt. Und sie baten den Propheten Esra: „Bring uns doch das Heilige Buch. Lies uns daraus vor.“ Wie lange hatten sie das nicht mehr getan!

Nehemia 8, Verse 5 bis 12
Esra öffnete die Buchrolle, und weil er höher stand als das Volk, konnten es alle sehen. Da stand das ganze Volk auf.
Zuerst pries Esra den großen Gott, und alle antworteten mit zum Gebet erhobenen Händen: »Amen, Amen!« Sie warfen sich auf die Knie und berührten mit der Stirn die Erde, um ihrem Gott Ehre zu erweisen.
Die Leviten (…) gingen zu den Leuten hin und halfen ihnen, das Gelesene zu verstehen. (…)
Als das Volk nun die Worte gehört hatte, fingen alle an, laut zu weinen. Da sagten der Statthalter Nehemia, der Priester und Lehrer Esra und die Leviten zu ihnen: »Seid nicht traurig und weint nicht! Heute ist ein heiliger Tag, ein Festtag zur Ehre Gottes!« (…)
»Geht nun, esst und trinkt! Nehmt das Beste, was ihr habt, und gebt auch denen etwas, die nichts haben. (…) Seid nicht bekümmert, denn die Freude an Gott ist eure Stärke!“
Und sie gingen und feierten ein riesiges Fest.

„Seid nicht bekümmert, denn die Freude an Gott ist eure Stärke!“

Gottes Wort bewegte die Menschen. Zuerst hatte Gott ihre Hände bewegt und sie zusammen etwas tun lassen. Dann hatte er ihre Herzen bewegt, und sie waren wieder Nachbarn geworden. Er hatte ihren Mut bewegt, in unwirtlichen Zeiten einfach anzufangen, ohne zu wissen, wie es geht. Und schließlich hatte Gott mit seinem Wort ihre Seele berührt, so sehr, dass sie weinten.
Viele Theologen sagen, diese Menschen weinten vor Angst oder aus Scham vor dem Wort Gottes, das sie gerade gehört hatten. Ich glaube das nicht. Wenn du mich fragst, wo Gott in jenem Moment war, dann bin ich mir ganz sicher: Gott war in ihren Tränen.
Ja, sie waren bekümmert, sehr bekümmert. Um ihr Leben. Um ihre Zukunft. Um ihr Land. Um ihre Welt voller Gewalt. Um ihre Liebsten. Um jeden Tag und seine Mühe. Darüber, wovon sie leben würden. Darüber, wie sie miteinander auskommen würden. Darüber, wo das alles hinführen könnte. Darüber, wie wenig das Heilige oder der Glaube zuletzt Platz hatte in ihrem Leben. Ja, sie waren sehr bekümmert. Mit Fragen, die uns bis heute bekümmern.
Was sie dann überrascht und konkret spürten – glaube ich – war Gottes Treue. Seine Gegenwart. Er war ihre Zuflucht geworden. Er war es immer gewesen. Sie haben es gesehen, erfahren und gespürt, wie Hans und Emil, Doris und Paul. Wie ich auch schon in besonderen Momenten. Wie du. Ganz sicher. Du auch.
Die Queen hat es gesehen als sehr gläubige Frau, und Jorge aus der kubanischen Partnergemeinde hat es gesehen – in den Augen der Armen, die sie dort speisen.
"We try to give them hope" (engl.: "Wir versuchen, ihnen Hoffnung zu geben"), sagte er.
„Seid nicht bekümmert, denn die Freude an Gott ist eure Stärke!“

„Sei nicht bekümmert, denn die Freude an Gott ist dein Zufluchtsort!“

Weißt du, was das für eine Stärke ist? Die hebräische Sprache verwendet hier ein Wort, das eigentlich wie ein Bild ist. Das Bild einer Herberge, eines sicheren Ortes, ein "safe place" (engl.: "sicherer Ort"), ein Ort, der Schutz bietet, Verteidigung, Schutzwehr, Zuflucht. Ein Ort der Bestärkung.
Ach, Gott, heute bitte ich dich: Lass uns doch mit dieser Freude Menschen bewegen. Bewege unsere Hände, und lass uns tun, was gerecht ist und dem Leben dient. Bewege unsere Herzen und lass uns Frieden machen. Bewege unseren Mut, in unwirtlichen Zeiten Kirche zu sein und einfach anzufangen, ohne zu wissen, wie es geht.
Du, hier in der Kirche, lass uns Theo-logen und Theo-loginnen sein – welche, die von Gott reden. Egal in welcher Reihe der Kirche du heute sitzt. So werde ich dir und du mir zum Wort Gottes.
Und der Friede Gottes, der höher ist als unsre Vernunft, der halte unsern Verstand wach und unsre Hoffnung groß und stärke unsre Liebe. Amen.

Bettina Schlauraff

Die Regionalbischöfin Bettina Schlauraff spricht in ihrer Festpredigt von vier Menschen, die sie besonders berührt haben: "Sie erzählen mir von Gott, was ich in keinem Buch lesen könnte." | Foto: Viktoria Kühne
Gottes Wort trifft ins Herz, wenn Menschen selbst von seiner Gegenwart berührt sind und das an andere weitergeben können, ist Bettina Schlauraff überzeugt.  | Foto: Rawpixel.com – stock.adobe.com
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