Versöhnung Frieden
Ein Kinderarzt berichtete über seinen Einsatz in Gaza
Über Pressemythen und verweigerte Empathie
Von Prof. Dr. Martin Leiner
Am 12. Juni fand in Räumen der Evangelischen Studierendengemeinde in Jena eine Veranstaltung mit dem Berliner Kinderarzt Dr. Qassem Massri statt. Die Veranstaltung war Teil einer Reihe von Vorträgen und Workshops, die das Ziel hatte, den Opfern des Krieges auf beiden Seiten zuzuhören und aktuelle Fragen wissenschaftlich zu diskutieren. Die Reihe wird fortgesetzt und der Horizont, in dem die Veranstaltungen stattfinden, ist die Suche nach einer echten, heilsamen und gerechten Versöhnung zwischen Israelis und Palästinensern als notwendigem Bestandteil eines dauerhaften Friedens im Heiligen Land.
Diese Veranstaltungen knüpfen an das deutsch-israelisch-palästinensische DFG-Projekt „Herzen aus Fleisch-nicht aus Stein. Dem Leiden der anderen begegnen“ (2013-2021), bei denen das Jenaer Zentrum für Versöhnungsforschung mit Artikeln in der New York Times, Haaretz, Le Monde oder der ZEIT weltweit bekannt wurde, weil wir Gruppen von Palästinensern nach Auschwitz und Buchenwald brachten. In diesem Sinne gab es seit 2023 eine Veranstaltung über Antisemitismus, eine über jüdische Friedenstraditionen und eine mit einer in Israel lebenden Palästinenserin und der Tochter des Versöhnungspraktikers zwischen Deutschen und Israelis und zwischen Israelis und Palästinensern Dan Bar-On, dessen berühmtester Ausspruch war: „Ein Feind ist jemand, dessen Geschichte man noch nicht gehört hat“.
Es ging weiter mit einem Workshop mit einer Zuschaltung eines Professors in Gaza, mit dem wir in einem EU-Projekt einen MA-Studiengang in Versöhnungsforschung aufgebaut haben, und eben die Veranstaltung mit dem Kinderarzt Dr. Massri. Die wissenschaftlichen Diskussionen waren durchweg pluralistisch und kontrovers. Bei dem Workshop mit dem Kollegen in Gaza sprach sich der Jurist Prof. Dr. Ciarán Burke gegen die Behauptung eines Scholastizids und eines Genozids in Gaza aus. Obwohl viele im zoom-Raum anders dachten, gab es faire und respektvolle Diskussionen.
Das Jenaer Zentrum für Versöhnungsforschung ist, nicht nur im Nahostkonflikt, dafür bekannt, dass es Räume zur Begegnung und zum Gespräch für Gruppen, die normalerweise nicht miteinander reden, offenhält. Dafür steht auch die Evangelische Kirche. In der DDR-Zeit bot sie Räume für Opposition gegen die SED-Diktatur und in Westdeutschland bot sie auch solchen Pfarrern, Kriegsdienstverweigerern, Friedensgruppen, Dritte-Welt und Anti-Atomkraftgruppen einen Ort, die nicht wenige Politiker mit Hilfe von Radikalenerlass und Antikommunismus ausgrenzen wollten.
Durch diese Offenheit auf beiden Seiten der Mauer konnte die Evangelische Kirche eine unverzichtbare Rolle bei der Wiedervereinigung einnehmen. Aber nicht nur dies: Seit Jesus Christus von Feindesliebe gesprochen hat, seitdem er unter seinen Jüngern einen Zeloten und den Zöllner und Besatzungskollaborateur Matthäus aufgenommen hat, seitdem Gemeinden aus Juden und Heiden, aus Griechen und Barbaren, aus Frauen und Männern, aus Armen und Reichen, aus Sklaven und Freien gebildet wurden, gehört es zum christlichen Glauben, nicht die Mauern und Gesprächsausschlüsse, sondern das Zuhören, die offenen Arme, das Gespräch über die große und die Suche nach unseren kleinen Versöhnungen zu wagen. Christlich ist nicht die Ausgrenzung von Menschen, sosehr man auch manchem, was sie sagen mögen, widersprechen muss, und christlich ist auch nicht die Neutralität, sondern – um es mit einer Einsicht der Systematischen Seelsorgelehre auszudrücken, die auch die Versöhnungsforschung übernommen hat: die Allparteilichkeit. Jesus Christus ist nicht gegen irgendjemanden, sondern für alle Menschen gestorben.
Hinzu kommt auch, dass wir Christen wie die Juden und viele andere Menschen auf die Suche nach der Wahrheit verpflichtet sind und dass Mitgefühl mit allen Geschöpfen Gottes uns geboten ist. Das gilt auch für die Palästinenser. Vor diesem Hintergrund sind die kritischen Untertöne gegen die Evangelische Studentengemeinde und mich, die in Glaube und Heimat Nr. 25 im Leitartikel von Mathias Thüsing im Zitat anklingen, unverständlich.
Der Referent Dr. Masri verdient gehört zu werden. Wir haben alles, was wir über den Referenten in Erfahrung bringen konnten, sorgfältig überprüft und sind zu einem positiven Ergebnis gekommen. Die Begründung der Absage der Räume durch das UKJ und die FSU haben wir auch genau studiert. Hauptgrund war die „Neutralitätspflicht“ der Universität. Das war kein hinreichender Gegengrund für die Veranstaltung.
Neutral mag eine Universität sich positionieren, Versöhnungsforschung und eine christliche Gemeinde ist demgegenüber immer schon positioniert: für die Menschen, für den Frieden, für Dialog, dafür allen Opfern auf allen Seiten eines Konflikts zuzuhören.
Für mich selbst sprechend glaube ich auch, durch solche Veranstaltungsreihen das Bestmögliche zur dauerhaften Bekämpfung von Antisemitismus zu tun. Aus dem Glauben an die bleibende Erwählung des Volkes Israel folgt heute, so meine theologische Überzeugung, dass wir alle Juden genauso hochachten, wie wir Christen achten. Der Überfall der Hamas darf als Auslöser des Krieges nicht vergessen werden. Die Kirche muss meines Erachtens deutlich machen, dass wir zum Volk der Juden aus theologischen Gründen stehen, nicht weil der Staat Israel im Einklang mit internationalem Recht eine ethische Kriegsführung gewählt hätte, sondern wir stehen zu ihnen, obwohl der Staat Israel und seine in Teilen rechtsextreme Regierung eine Kriegsstrategie verfolgen, die extreme Grausamkeiten mit einschließt, über die wir nur voll Entsetzen sagen können: „O israelische Regierung, o israelische Armee, was habt ihr getan!“
Wir stehen zu den Juden, weil Gott sie erwählt hat. Nur diese Argumentation wird, davon bin ich überzeugt, auch an dem Tag Bestand haben, wenn allen klar wird, dass die Beschönigung der Kriegsführung Israels ein Irrtum war, und dass der deutsche Staat durch fortgesetzte Waffenlieferungen und die deutschen Kirchen durch die Verdrängung der Stimmen und des Leidens von Palästinensern schwere Schuld auf sich geladen haben.
Die Studierendengemeinde in Jena hat mit der Vermietung des Raums für die Veranstaltung das Richtige in einer Zeit getan. Eine evangelische Kirche sollte zu ihr stehen.
Paul Tillich schrieb: "Der erste Akt der Liebe ist das Zuhören". Raum für Zuhören und Empathie zu bieten, war das erste Ziel, warum ich die Veranstaltung des Kinderarztes Dr. Qassem Massri in unsere Reihe aufgenommen habe. Seit dem 21. 06, mit kleinen Veränderungen seit dem 29.06.25 ist das Video der gesamten Veranstaltung auf youtube unter dem folgenden Link abrufbar:
https://youtu.be/DmMtLLHgHt0
Es wundert mich, dass nicht dieses Video und das, was wirklich bei der Veranstaltung gesagt wurde, Thema der öffentlichen Diskussion sind, sondern Aussagen, die allesamt von Menschen stammen, die den Vortrag und die Diskussion nicht oder nicht bis zum Ende verfolgt haben.
Auf MDR online hat ein freier Journalist drei Fassungen seines angeblichen Berichts über die Veranstaltung publiziert. Jede Fassung wollte einen anderen Skandal herbeischreiben. Alle Fassungen waren so fehlerhaft, dass sie erst in Teilen geändert wurden. Inzwischen ist der ganze Artikel depubliziert.
Was wurde nicht alles auf MDR online, auf den Instagramseiten kleiner proisraelischer Gruppen und in hinter den Kulissen von diesen Gruppen verschickten Briefen über die Veranstaltung zusammenphantasiert!
Ich möchte die Vorwürfe nicht wiederholen, wer sich dafür interessiert kann an martin.leiner@uni-jena.de eine Mail schreiben und wird die Gegendarstellung der Veranstalter zu diesen Mythen erhalten.
Leider enthält auch der Artikel in Glaube und Heimat einen größeren sachlichen Fehler. Es wird behauptet, dass es einen Hinweis aus dem Publikum gegeben hätte, dass „der gegenwärtige Krieg durch den Überfall der Hamas auf Israel am 7.Oktober 2023 ausgelöst wurde“ und dass diese Aussage vom Referenten als „Mythos“ bezeichnet worden wäre.
Sieht man sich das Video an, dann sagte der Fragesteller, „das ganze Desaster habe ja mit dem Überfall der Hamas begonnen“. Diese Aussage bezeichnete der Referent als „Mythos“. Natürlich leugnete der Referent nicht, dass der aktuelle Gazakrieg mit diesem Überfall begonnen hat, wohl aber stellt er richtig, dass dieser Überfall eine 75 jährige Vorgeschichte hatte, bei der die Opfer meistens die Palästinenser waren. Unzutreffend ist in dem Artikel in Glaube und Heimat auch, dass das Zentrum für Versöhnungsforschung den Raum gemietet hätte, Mieter und Veranstalter war der Lehrstuhl für Systematische Theologie mit Schwerpunkt Ethik.
Als Veranstalter bedauere ich, dass die Strategie militanter proisraelischer Gruppen, die nicht nur in Jena, sondern in vielen Orten in Deutschland angewandt wird, in gewisser Weise aufgegangen ist. Man versucht Veranstaltungen, die Empathie mit den Palästinensern hervorrufen könnten, zu verhindern. Wenn dies nicht gelingt, dann versucht man, die Veranstalter zu beschädigen und schafft es fast immer, dass statt über das Leiden und Sterben von nach aktuellen Schätzungen mindestens 100.000 Menschen in Gaza, über Antisemitismus diskutiert wird, wobei dann meist auch gleich Israelkritik mit Antisemitismus verwechselt wird.
Der israelische Historiker Juval Noah Harari hat zu Beginn des Gazakrieges geschrieben, dass er die Aufgabe anderer, mit Israel befreundeter Bevölkerungen wie der Deutschen darin sieht, die Empathie mit den Menschen in Gaza aufrecht zu erhalten, um eines Tages gemeinsam mit den wenigen Israelis, die es genauso sehen, eine Brücke für die Rückkehr der Empathie in weite Teile der israelischen Gesellschaft bauen zu können. In diesem Sinne war die Veranstaltung aus meiner Sicht gelungen. Ich bitte darum, wenigstens einige der Aussagen aus dem Vortrag und der Diskussion zur Kenntnis zu nehmen. Hier eine Zusammenfassung:
Dr. Massri zeigte aufgrund von Statistiken, die vornehmlich von internationalen und palästinensischen Menschenrechtsorganisationen und der WHO stammen, die Zerstörung von Krankenhäusern und wies auf die außergewöhnlich hohe Zahl der getöteten Ärztinnen und Ärzte, Krankenschwestern und Helferinnen und Helfer hin.
Im Vortrag und in der anschließenden Diskussion erklärte Dr.Massri weiterhin, dass es eine noch viel größere Zahl von indirekten Todesopfern des Gazakrieges aufgrund fehlender medizinischer Versorgung gebe. Aufgrund fehlender Nahrung seien zum Beispiel alle Menschen, die künstlich ernährt werden müssen, zumal alle Behinderte mit diesem Bedarf, verhungert. Dialysepatienten und Krebspatienten erhielten keine ausreichende medizinische Versorgung; viele seien bereits verstorben. Chronische Krankheiten wie Diabetes und Bluthochdruck könnten mangels Medikamente nicht mehr kontrolliert werden. Nur sehr wenigen werde zurzeit eine Ausreise aus medizinischen Gründen aus dem Gazastreifen gewährt. Häufige Stromausfälle in Krankenhäusern führten zu Todesfällen, ebenso Operationen mit unzureichendem Gerät und fehlenden Desinfektionsmitteln. Wegen des Ärztemangels komme es zu Fehldiagnosen, weil Ärzte Aufgaben übernehmen müssten, für die sie nicht ausgebildet sind. Zahlreiche Menschen, die medizinische Versorgung benötigten, schafften es nicht zu den Krankenhäusern, von denen ausnahmslos alle Angriffen durch die israelische Armee ausgesetzt waren und zumindest zeitweise nicht arbeiten konnten.
In einem zweiten Teil zeigte Dr Massri selbst aufgenommene Videos seiner Tätigkeit in Krankenhäusern in Gaza. Dabei zeigte er auch Bilder der katastrophalen sanitären Versorgung in Flüchtlingslagern und sprach über sich ausbereitende Infektionskrankheiten und die akute Seuchengefahr. Mangelernährung und Dehydrierung führten oft zu dramatischeren Verläufen. Er zeigte absichtlich zerstörte medizinische Geräte und sprach von den selbst erlebten Unmöglichkeiten, die notwendigen Desinfektionen bei Operationen durchzuführen. Er berichtete auch von einem Säugling, den er selbst behandelt und operiert hat und auch davon, dass der Säugling wenige Wochen nach seiner Abreise aus Gaza an Hunger gestorben ist. Die Schwächsten, die Säuglinge, die Behinderten, die Kinder, die chronisch Kranken und die Alten seien die indirekten Opfer dieses Krieges. Zum Abschluss zeigte Dr Massri ein Mädchen aus seiner eigenen Verwandtschaft in Gaza und sprach über den Willen zum Leben und die Hoffnung dieses Mädchens.
In der Diskussion wurden zahlreiche medizinisch relevante Fragen gestellt. Der Referent berichtete, dass er mit der Organisation Medico international in Gaza eingereist war. Eine Gruppe von Ärzten war über Ägypten kurz vor der Besetzung des Rafah-crossing durch Israel eingereist. Am israelischen Übergang wurden sie viele Stunden aufgehalten und mussten sich anhören wie der zuständige IDF-Soldat scherzte: "Und jetzt werdet ihr alle erschossen." Dann schlug in unmittelbarer Nähe eine Rakete ein.
Seit der Besetzung von Rafah gebe es für den Spezialisten für Pädiatrie keine Möglichkeit mehr, nach Gaza als Arzt einzureisen, weil die israelische Regierung allen Ärzten, die bis zurück in die dritte Generation familiäre Wurzeln in Gaza haben, die Einreise verbiete. Da 80% der freiwilligen Ärzte in Gaza ursprünglich solche Beziehungen zu Gaza hatten, fand Massri auch in dieser Maßnahme einen weiteren Beleg für die systematische Zerstörung der Möglichkeiten der Bevölkerung in Gaza adäquate medizinische Versorgung zu erhalten.
Die Begründungen der israelischen Armee, unter den Krankenhäusern befänden sich Kommandozentralen der Hamas konnte Massri nicht bestätigen. Ihm sei in den drei Wochen im April 2024, in denen er in Gaza war, niemand begegnet, der sich als Hamaskämpfer zu erkennen gab. Kämpfe hätten in dieser Zeit in unbewohnten Gebieten stattgefunden. Nur in der Nähe eines Krankenhauses habe es nach seiner Beobachtung Gebäude der Hamas gegeben.
Im Laufe des Vortrags sagte Dr Massri auch kurz etwas über seine persönliche Motivation und seine Tätigkeit als Aktivist. Die Motivation, sein Leben zu riskieren und als Arzt nach Gaza zu gehen, kommt aus dem Gefühl der „Schuld des Überlebens“. Politisch sieht Massri sich weit von der Hamas entfernt und sah in seiner Jugend bewundernd zur den deutschen linksorientierten Parteien SPD und Grüne auf, von denen er inzwischen schwer enttäuscht ist. Vor allem die fortgesetzten Waffenlieferungen an Israel lehnt er ab und ist auch gegen diese aktivistisch tätig.
Als Veranstalter stimme ich, wie bei fast jedem Vortrag, nicht mit allem überein, was von dem Referenten und im Publikum gesagt wurde, aber ich sehe das Aufrechterhalten von Räumen des Gesprächs und der Empathie als gelungen an.
Die Mythen der Presse und die Skandalisierung derjeningen, die zwar eingeladen, aber nicht gekommen waren, und auch die ganzen Rechtfertigungen der Militärs und Politiker auf beiden Seiten, stehen für mich in keinem Verhältnis zu den Leiden der Menschen, die Hamas und israelische Armee verursacht haben. Wer den Opfern zuhört und das Leid kennt, das durch Kriege ausgelöst wird, kann nicht anders als sich der Aussage der 1. Vollversammlung des Ökumenischen Rates in Amsterdam 1948 anzuschließen: „Krieg soll nach Gottes Willen nicht sein“ und, wenn er schon einmal besteht, dann muss er so schnell wie möglich beendet werden.
Autor:Martin Leiner |
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