VOLKSTRAUERTAG
Was ihr einem Mitmenschen getan habt, das habt ihr mir getan

Der Volkstrauertag ist eine Nach-Wende-Erscheinung. Davor kannten wir ihn nur aus der Tagesschau. Aber das ist schon in Ordnung so, dass wir ihn jetzt begehen. Er ist ein Tag des Gedenkens an Krieg und Gewalt, -an Siege und Niederlagen, -an Besitz und Verlust, -an Heimat und Vertreibung, -an Leben und Tod, -an Zusammenbruch und Veränderung, -an viel Leid, viel Schmerz und viele Tränen.
Mancher von uns war persönlich betroffen. Ich war damals gerade fünf Jahre alt. Gebesee, mein Geburtsort, war "zur Festung" erklärt und von den Amerikanern beschossen worden. Wir saßen im Keller des Pfarrhauses, dicht gedrängt, Bewohner und Vertriebene, und hatten Angst. Turm, Kirche und eine Scheune des Pfarrgrundstücks wurden getroffen. Mein Vater kehrte am 1. Juli 45 aus dem Krieg zurück und wurde mit anderen Heimkehrern als Kriegsverbrecher beschimpft. Andere waren schon am ersten Tag des Polenfeldzuges gefallen oder gar am letzten Tag des Krieges, nachdem sie den ganzen Schlamassel mitgemacht hatten. Andere gerieten in Gefangenschaft und kamen nach Sibirien oder starben in Bad Kreuznach oder anderen Kriegsge-fangenen-Lagern. Fritz Reinike, der Vater meiner Frau, starb an einer Ruhr mitten im Krieg als Oberzahlmeister in Moldawien. Meiner Frau haftete immer der Makel einer Offiziers-Tochter an. Meine Schwiegermutter bekam nie eine ordentlich Rente, geschweige denn die einer Offiziers-Witwe. Andere Kriegsteilnehmer kamen mit Verletzungen nach Hause oder litten an den Folgen von Hunger, Entbehrung und Zwangsarbeit. 

Es ist gut, sich zu erinnern. Begonnen hatte alles mit Aufbruch und Hoffnungen, mit Aufmärschen und Fanfa-ren, und auch diese Kirche hat manches davon erlebt. Ein Fahnen-Meer und SA-Uniformen bei der Einführung von  Pfr. Koszinowski z.B., der sich allerdings später davon distanzierte und seine Pfarrstelle deshalb verlassen musste! Es ist gut, sich zu erinnern, wohin Hochmut und Überheblichkeit, Unmenschlichkeit und falsche Götter
führen! Nicht der Anfang ist entscheidend, sondern das Ende. Nicht der Start entscheidet über Sieg und Niederlage, sondern der Zieleinlauf. Die alten Römer sagten: "Quid quid agis, prudenter agas et respice finem!"
(Was immer du tust, führe es weise aus und bedenke das Ende!)
Vom Ende spricht auch unser Predigt-Text: vom Weltende und vom Weltgericht. Der Weltenrichter (König) wird die Menschen scheiden , wie ein Hirt die Schafe und Böcke scheidet. Er wird jeden von uns einer bestimmten Gruppe zuweisen: die Schafe zu seiner Rechten gehen geradewegs in das ewige Leben; die Böcke zur Linken  müssen in die Hölle, in die ewige Pein. Auf unzähligen Bildern des Mittelalters ist das als zentrale Botschaft der Bibel in die  Altarräume der Kirchen gemalt worden. Das sollte jeder sehen und bedenken. Keiner sollte sagen können. "Das habe ich nicht gewusst!" Und das will unser Predigt-Text uns heute ins Gedächtnis bringen. Das Jüngste Gericht ist keine Ammen-Märchen, das Gottlose fromm machen soll, sondern die reine Wahrheit! Es wird kommen, und wir werden ihm ausgesetzt sein, und es wird alle Zukunft entscheiden zum Heil oder zur Verdammnis. Unser Bibeltext erklärt Gottes Entscheidung über Leben und Tod, Heil und Verdammnis als Folge  unseres Tuns bzw. unseres Unterlassens. Was ihr dem Bedürftigen Gutes getan habt, das habt ihr mir getan. Was ihr an ihm unterlassen habt, das habt ihr an mir unterlassen. Kommt her, ihr Gesegneten! Haut ab, ihr Verdammten! Diese Worte haben mich immer bewegt, und sie lassen mich auch heute nicht kalt. Wie haben wir uns das vorzustellen? Wir sind doch alle durchwachsen. D.h. in unserem Leben sind Gutes und Böses vermischt. Wir haben Wohltaten und Unterlassungen. Wir haben uns dem Bedürftigen zugewendet, und wir sind an ihm vorbei gegangen. Werden Soll und Haben gegeneinander verrechnet wie bei einem Bank-Konto? Und wie ist das mit dem Paulus-Wort (Römer 8): "Nichts kann uns scheiden von der Liebe Gottes, die in Christus Jesus ist, unserm Herrn!" Dieser Satz war mir immer ein Trost gegen alles Misslungene in meinem Leben, und er ist es auch heute noch. Doch bevor ich weiter darüber nachdenke und vielleicht zu einem Ergebnis komme, möchte ich eine Geschichte erzählen, die der Volksbund der Kriegsgräberfürsorge mitgeteilt hat:

Die Geschichte erzählt von der Suche einer Krieger-Witwe nach dem Grab ihres Mannes in Lettland. Als sie im September 1944 erfährt, dass dieser bei Rückzugsgefechten der 132. Infanterie-Division gefallen war, bricht für sie alles zusammen. Noch in seinem letzten Brief hatte er geschrieben: "Sorge Dich nicht! Ich habe ja einen Schutz-Engel, der mich heil zu Dir zurück bringen wird." Aber der Schutz-Engel hatte versagt, und sie begann eines Tages nach dem Grab ihres Mannes zu suchen. Die Jahre vergingen, und sie verzog nach Kanada. Sie wusste, dass der Major Heinrich Ochssner, bei Ergli, in der Nähe eines Hofes mit dem Namen Indrikeni, be-stattet worden war. Nach der Wende (Glasnost und Peristreuka) war die Kriegsgräberfürsorge überall am
Umbetten der Toten. Sie erfuhr, dass auch die Toten  aus der Gegend von Ergli umgebettet werden sollten (nach Riga oder Saldus), und das ließ ihr keine Ruhe. Oberirdische Anhaltspunkte waren kaum noch da. Menschen, die dort gelebt hatten, waren verstorben oder verzogen. Doch der Gedanke an ihren Mann und sein Grab beschäf-tigte sie immer wieder. Sie fuhr nach Lettland, suchte die Gegend um Ergli auf, knüpfte Kontakte zu Bewohnern, erlebte die Exhumierung von Gefallenen. Aber ihr Mann war nicht darunter. Dann zeigte ihr ein nächtlicher Traum die Stelle der Gräber. Die erste Grabung war erfolglos. Erst ein Jahr später fanden die Bagger die Stelle, wo die Männer begraben lagen. Ihr Mann lag in einem Eichensarg. Sein Leichnam und die Beigaben waren deutlich erhalten. Höhepunkt und Tiefpunkt zugleich. Das erfolgreiche Ende einer drei-jährigen Suche! Aber im Krieg ist kaum einer ohne Schuld geblieben.  Wie viele Männer mag er auf dem Gewissen gehabt haben, der Major Ochssner? Feinde und eigene Männer, die er nicht heimbringen konnte?

"Was ihr getan habt einem unter diesen meinen Brüdern, und sei es der Geringste, das habt ihr mir getan!" 
Christus x-mal erschossen und erschlagen, verhungert und verdurstet etc., etc. Oder zählt im Krieg alles anders? Wird aus Minus ein Plus, aus einem Fluch ein Gebet? Ist denn Gott ein Pfennigfuchser, ein Kleinkrämer oder eine Buchhalter-Seele? Für mich nicht! Er bleibt für mich ein Gott der Liebe und der Barmherzigkeit.
Aber erst nach dem großen Erschrecken. Erst nach der Erkenntnis (Jesaja 6): "Weh mir, ich vergehe! Denn ich bin ein Mensch unreiner Lippen und wohne unter einem Volk unreiner Lippen!"

Ich schließe mit einem Text von Pfarrer Gerhard Engelsberger (Jahrgang 1947, Pfarrer in Mannheim und Wiesloch, Mitarbeiter bei Funk und Fernsehen etc.) in Auszügen:
David hat Goliath erschlagen. Der Kleine hat den Großen besiegt mit einem Stein aus seiner Schleuder. Der Große fällt in seiner Rüstung, mit blutender Wunde und aufgerissenen Augen klirrend zu Boden (Den Rest musste ihm David noch geben!). Ich kann es nicht sagen, warum? Aber seit meiner Kindheit bin ich bei Siegesmeldungen misstrauisch. Die UFA-Wochenschauen mit ihren Helden-Legenden zogen mich als Kind zwar in ihren Bann, machten mich aber nie glücklich. Ich hatte nie Freude am Tod Goliaths, am Tod des ägyptischen Heeres im Schilfmeer, an der Selbstjustiz des Judas... Ich habe mich immer gefreut, wenn Leben möglich wurde im Land der Unterdrücker. Vielleicht wirft man mir vor, ich würde die Versöhnung aller predigen und Gott als gerechten Richter verleugnen? Ja, auch das mit Gott als dem Richter, der in die Verdammnis schickt, habe ich nie nachvollziehen können. Wie könnte ich Freude empfinden, wenn anderen der Himmel verschlossen bleibt!?  Warum sollte sich Gott gerade über meine Fehler erbarmen und nicht über das bizarre Elend Goliaths? Dieser Gott ist mir von Kindheit an fremd. Ich wünschte, Goliath könnte Revision einlegen... Ich wünschte, es gäbe einen dritten Weg.  
Jesus, der Mann aus Nazareth, ist den dritten Weg gegangen. Den einzig überzeugenden. Er hat sich dazwischen gestellt. Siegesmeldungen haben mich noch nie überzeugt... Nur diese eine, und manchmal sage ich sie mir vor, dreimal, fünfmal, zehnmal am Tage gegen alle Vernunft. "Er ist auferstanden. Er ist wahrhaftig auferstanden!" Amen.                                                           (Predigt über Matthäus 25, 21-46, Oldisleben, Volkstrauertag)

Autor:

Martin Steiger

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