Der Vorsprung

(Illustration: Maria Landgraf)

Eine Erzählung von Stefan Petermann mit einer Illustration von Maria Landgraf

Der Vorsprung war die einzige Unebenheit am Berg. Einen knappen Meter ragte er aus dem ansonsten glatten Fels heraus und war kaum zwei Meter lang. Bis zum Boden musste es einen guten Kilometer sein, zum Gipfel deutlich mehr.
Ich trug warme Kleidung, dazu eine wasserabweisende Outdoor-Jacke und hatte außer einem sauber gefalteten Zellstofftaschentuch nichts bei mir. Von meinem Leben besaß ich eine ungefähre Vorstellung, ahnte, wo ich gewesen war, wen und was ich geliebt, wie ich meine Tage verbracht hatte. Einzelheiten konnte ich nur wenige benennen, Jahre keine. Gestern war so unfassbar wie alle Zeiten. Es gab den Vorsprung, und das, was sich zuvor ereignet hatte, verbarg sich in einem Nebel.
Ich blickte vom Vorsprung hinab. Weit ins Land konnte ich schauen. Da lagen Felder brach und Wälder rot, herrlich grün ein See, schwarz die Dörfer, rauchgrau die Straßen. In der Ferne zeichnete sich eine Gebirgskette ab. Ohne es genau bestimmen zu können, schien mir die Gegend vertraut. Menschen waren nicht auszumachen. Es war auffällig still. Geräusche, die zu einer solchen Landschaft gehören sollten, fehlten.
Wie ich auf den Vorsprung gekommen war, wusste ich nicht, doch musste ich alles daransetzen, ihn zu verlassen. Sorgfältig untersuchte ich den Felsen, fuhr mit den Fingern die Oberfläche des Gesteins ab, hoffte so, Unregelmäßigkeiten zu entdecken, Kanten, Zacken oder Brüche, die meinen Füßen und Händen Halt fürs Klettern bieten konnten. Doch da war nichts. Nur eine glatte Fläche. Stein war Stein.
Auch wenn ich keine Höhenangst verspürte, hatte ich Respekt vor der Höhe. Ein falscher Schritt würde den sicheren Tod bringen. Ich hatte von Fallschirmspringern gehört, die viele tausend Meter in die Tiefe gefallen waren und überlebt hatten, weil ein Heuhaufen ihren Sturz gedämpft hatte. Auf einen solchen Zufall durfte ich nicht hoffen. Würde ich vom Vorsprung stürzen, würde, noch bevor ich den Boden erreicht hätte, mein Körper an der Felswand zerschmettert sein. Ein Sprung würde mich vom Vorsprung bringen und zugleich töten.
Besser, ich würde gerettet werden. Also schrie ich. Schall verbreitet sich schnell und wird weit getragen. Im günstigen Fall würde ein Echo entstehen. Zuerst versuchte ich, meine Situation mit vielen Worten zu beschreiben. Bald gab ich die vielen Worte zugunsten eines einzelnen auf. Nach Stunden versagte mir die Stimme. Als ich sie wiedererlangte, schrie ich erneut. Sie versagte, ich schrie, ich schrie, sie versagte, ich verstummte, ich schrie.
Niemand hörte mich.
Ich warf winzige Steinchen den Vorsprung hinab. Trotz ihrer geringen Größe erreichten die Steine eine enorme Geschwindigkeit. Sie konnten eine Gerölllawine auslösen und jemanden verletzen, möglicherweise sogar töten. Insgeheim hoffte ich darauf. Der Tod eines Fremden würde die Wahrscheinlichkeit meiner Entdeckung erhöhen.
Bald stellte ich fest, dass Hunger und Durst mir keine Sorgen bereiten würden. Wenn ich ein Ziehen im Bauch verspürte, kratzte ich Flechten vom Fels. Den Flechten haftete ein erdiger Geschmack an, was mich gut sättigte. Tau, der sich am Morgen gebildet hatte, leckte ich von den Steinen. Wenn ich auf dem Vorsprung bliebe, würde ich überleben können.
Ich verstand, dass ich auf dem Vorsprung nichts zu befürchten hatte. Wenn ich genügsam Flechten kratzen und Tau lecken und mich wenig bewegen würde, würde ich in Sicherheit sein. Niemand würde zu mir sprechen, niemand mich bedrohen, nichts mir etwas anhaben können.
Als ich das begriff, lernte ich, den Vorsprung zu schätzen. Wenn mir die Tage lang wurden und ich in den Nächten kaum zur Ruhe kam, weil ich fürchtete, im Dämmern das Gleichgewicht zu verlieren und zu fallen, machte ich mir bewusst, welchen Schutz solch ein Ort bot und wie dankbar ich sein musste, ihn genießen zu dürfen.
Das Wetter blieb beständig. Ein Wechsel der Jahreszeiten war nicht auszumachen. Das Land lag unheilvoll friedlich vor mir. Die Flechten wuchsen nach, der Morgen brachte beständig neuen Tau. Nichts änderte sich, ich war geschützt.
Auch wenn ich wusste, dass der glatte Felsen mich nicht halten würde, ging ich eines Tages in die Knie, schloss die Finger um den Rand und ließ mich hinab, dem Boden entgegen, um den Vorsprung zu verlassen.

Aus: Petermann, Stefan: Der weiße Globus. Geschichten, Edition Muschelkalk der Literarischen Gesellschaft Thüringen, Wartburg Verlag, 87 S., ISBN 978-3-86160-345-0, 14 Euro

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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