Oberstes Gericht in Russland verbietet »Zeugen Jehovas«

Auslagevitrine vor einem Königreichsaal der Zeugen Jehovas | Foto: epd-bild

Von Benjamin Lassiwe

An Bahnhöfen oder Verkehrsknotenpunkten stehen sie mit ihren Handwägelchen und verteilen den »Wachtturm«. Zuweilen klingeln sie an den Haustüren oder sprechen Passanten auch direkt an. Die Angehörigen der Religionsgemeinschaft von Jehovas Zeugen sind im deutschen Straßenbild präsent. Zu ihren Gottesdiensten versammeln sie sich in sogenannten »Königreichsälen«. Und ab und an füllt die Gruppe mit ihren Großveranstaltungen ganze Stadien, etwa die Hamburger Barclaycard Arena oder die Dortmunder Westfalenhalle. Doch viel erfährt die deutsche Öffentlichkeit nicht vom Leben der eher zurückgezogen auftretenden Religionsgemeinschaft, die Ende des 19. Jahrhunderts aus einem Bibelkreis des Amerikaners Charles Taze Russel entstand und hierzulande rund 165 000 Mitglieder zählt. Bekannt ist lediglich ihre Verfolgung im Nationalsozialismus: Damals wie heute verweigerten die Mitglieder von Jehovas Zeugen den Militärdienst. Denn jeder Waffengang würde aus ihrer Sicht unweigerlich gegen das biblische Gebot »du sollst nicht töten« verstoßen. Umso überraschender kam ein Urteil, das der Oberste Gerichtshof Russlands kürzlich fällte: Die Zeugen Jehovas seien »extremistisch«, ihr Vermögen werde eingezogen, ihre Versammlungen verboten. International stieß dieser Richterspruch auf viel Kritik: »Es darf nicht sein, dass die friedliche Ausübung des Rechts auf Religions- und Weltanschauungsfreiheit verunglimpft und unter Strafe gestellt wird«, sagte etwa der Russland-Beauftragte der Bundesregierung, Gernot Erler (SPD). »Die ausufernde Anwendung des ›Extremismus‹-Vorwurfs gegen Andersdenkende in Russland bereitet mir große Sorgen.«
Und auch Menschenrechtsorganisationen wie »Human Rights Watch« kritisierten das Verbot der Religionsgemeinschaft. Ähnlich sehen das auch Sektenexperten in Deutschland. »Von den Zeugen Jehovas geht aus deutscher Sicht keine Gefahr für die Gesellschaft und den Staat aus«, sagt etwa Michael Utsch. Der Berliner Religionspsychologe ist Referent an der Evangelischen Zentralstelle für Weltanschauungsfragen (EZW), die aus der Perspektive der Evangelischen Kirche in Deutschland (EKD) die religiöse Landschaft hierzulande beobachtet. »Jemand, der freundlich am Straßenrand steht und seinen Wachtturm anbietet, stellt keine Gefahr für die Rechte der Bürger dar – und gerade weil diese Gruppe nun gar keine politischen Ambitionen hegt und sich eher aus dem Staat zurückzieht, passt auch der Begriff des Extremismus nicht.«
Allerdings gebe es im Umgang mit Jehovas Zeugen auch »Konfliktpotenzial«, sagt Utsch und berichtet von Aussteigern, die sich hilfesuchend an die EZW gewandt hätten. Denn bei den Zeugen Jehovas gebe es eine sehr autoritäre und hierarchische Struktur »und ein hohes Absolutheitsdenken«. Wer die Zeugen Jehovas verlasse, gelte häufig als »abtrünnig«. »Die übrigen Gemeindemitglieder brechen die sozialen Kontakte zu diesen Menschen ab«, sagt Utsch. »Eine Großmutter, die die Gruppe verlassen hat, darf ihre Enkelkinder nicht mehr sehen.« Familienbande würden zerschnitten, Kontakte zerstört. »Aber auch das rechtfertigt nicht das übergriffige Verhalten der russischen Regierung.«
Die Zeugen Jehovas jedenfalls wollen in Russland vorläufig nicht aufgeben: »Wir sind über diese Entwicklung tief enttäuscht und sehr besorgt, wie sich das auf unsere religiöse Tätigkeit auswirken wird«, erklärte ihr Sprecher Jaroslaw Siwulskij nach dem Urteil. »Wir werden gegen diese Entscheidung Rechtsmittel einlegen und hoffen, dass unsere Rechte und der Schutz unserer friedlichen Religionsgemeinschaft sobald als möglich völlig wiederhergestellt werden.«

Autor:

Kirchenzeitungsredaktion EKM Süd

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