Schlachtfelder der Schönheit

Davor kann niemand die Augen verschlie-
ßen: Schönheit ist tatsächlich mess-
bar – die Zahlen-
und Längen­verhältnisse des »Goldenen Schnitts«, den die Antike auch »proportio divina«, göttliches Teilungsverhältnis, nannte, lassen sich überall in der Natur und in der Kunst entdecken. | Foto: tournee – stock.adobe.com
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    und Längen­verhältnisse des »Goldenen Schnitts«, den die Antike auch »proportio divina«, göttliches Teilungsverhältnis, nannte, lassen sich überall in der Natur und in der Kunst entdecken.
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Schönheits(wahn)vorstellungen: In ihrer Londoner Praxis behandelt Susie Orbach Menschen, die unzufrieden mit ihrem Körper sind. Die Bestsellerautorin verfasste Bücher wie das  »Antidiätbuch«, »Lob des Essens« oder »Bodies. Schlachtfelder der Schönheit«. Ihre These: Der Körperhass der industrialisierten Welt ist der heimliche Exportschlager der Globalisierung.

Von Markus Springer

Auf den Fidschi-Inseln gibt es Fernsehen erst seit 1995. Für das, was im Südseeparadies als schön galt, hatte der technologische Sprung in die mediale Moderne dramatische Folgen. Und die Wissenschaft war live dabei. Galten auf Fidschi zuvor üppige, runde, gut genährte, nach westlichen Maßstäben fette Frauenkörper als attraktiv, verkehrte die TV-Bilderflut das Schönheitsideal der Insulanerinnen mit Sendungen vor allem aus Australien, Großbritannien und den USA in kürzester Zeit ins Gegenteil. Die Fälle von Magersucht verfünffachten sich innerhalb von wenigen Jahren, wie die Harvard-Forscherin Anne Becker untersucht hat.
Die britische Psychotherapeutin und Autorin Susie Orbach zitiert die Harvard-Studie in ihrem Buch »Bodies. Schlachtfelder der Schönheit«. Sie zeigt, was Zivilisationskrankheiten wie Magersucht oder Fettleibigkeit mit einem immer unerreichbareren Ideal vom »schönen« Körper zu tun haben. Und warum unter den Bedingungen von Globalisierung und »Körperoptimierungstechnologien« uns unsere Körper kein sicheres Zuhause mehr bieten.
Magersucht ist eine der am weitesten verbreiteten psychischen Erkrankungen, vor allem bei Mädchen und jungen Frauen. Gleichzeitig klagen Mediziner und Gesundheitspolitiker in der westlichen Welt über eine Epidemie der Fettleibigkeit. Mehr als 400 000 Menschen leiden in Deutschland an Essstörungen, zumeist Mädchen und junge Frauen. Rund 7 000 lebensbedrohliche Fälle von Magersucht (Anorexie) werden jedes Jahr in deutschen Krankenhäusern diagnostiziert, etwa ein Prozent der Betroffenen stirbt.
Orbach hat die vielfältigen Körperprobleme, die ihr in ihrer psychotherapeutischen Praxis begegnen – Anorexie, selbstverletzendes Verhalten (»Ritzen«), Körperbildstörungen (also der Wunsch, einen Arm oder ein Bein durch Amputation zu verlieren), Verwirrung über die eigene geschlechtliche Identität, zwanghaftes Sporttreiben, Angst vor dem Älterwerden –, als »beständigen Versuch der Betreffenden« interpretiert, »einen verlässlichen Körper zu finden und die Scham über den eigenen Körper loszuwerden«.
Dabei steht am Anfang eigentlich eine moderne Freiheitsverheißung in Sachen Körper. Biologie muss kein Schicksal sein, lautet das Versprechen der Schönheitsindustrie. Fettabsaugung, Brustvergrößerung und -verkleinerung, OPs an Nasen, Ohren: Der menschliche Körper ist zum vorläufigen, zum formbaren Objekt geworden.
Fast alles ist machbar, auch der Wechsel des Geschlechts. 2015 wurde aus Bruce Jenner, einem ehemaligen Musterathleten, der 1976 Zehnkampfolympiasieger war, die Transfrau Caitlyn Jenner, die im Badeanzug auf dem Titel der Mode- und Lifestylezeitschrift Vanity Fair posierte. Und dass als biologische Frauen geborene Transmänner Kinder gebären, wie der US-Amerikaner Trystan Reese im Juli 2017, ist keine Sensation mehr.
Man muss es sich nur leisten können: Auf die Frage, welche Art von Körper heute als »in Ordnung« gelte, antwortet Orbach: »Einer, den man kauft.« Durch Diäten, Fitnessstudio, Schönheitsoperationen. Doch die nahezu unbegrenzt scheinende Machbarkeit erhöht auch den Druck. Je mehr machbar ist, desto schärfer erscheint die Differenz des einzelnen Körpers zum fiktiven »Idealmaß«. Äußere, generalisierte Vorstellungen von Ebenmaß und Schönheit entwickeln so größeren Anpassungszwang als je zuvor. Der Körper, in dem wir leben, wird zu einem immer zerbrechlicheren, unsichereren Ort.
Das liege daran, sagt Susie Orbach, dass Körper heute zum »Produkt« geworden sind, für dessen Form und Gestalt wir selbst verantwortlich sind, und zwar praktisch nur wir selbst. Unser fitter, schöner Körper ist Ausweis unserer Zuverlässigkeit, unseres Fleißes, unseres Arbeitsethos. Der Körper ist in nachindustriellen Zeiten vom Produktionsmittel zum »zu Produzierenden« geworden. In ähnlicher Gnadenlosigkeit.
Freilich: Überall auf der Welt und zu allen Zeiten war der menschliche Körper nie etwas anderes als ein soziales und kulturelles Konstrukt. Unsere Körper und die Weise, wie wir sie verändern und schmücken, sind Signale und Zeichen. »Körpersprache« und Körperschmuck sagen etwas aus über unsere Identität und unser Selbstverständnis.
Halsringe oder Verschleierung, Gesichtsbemalung oder Tätowierung, Goldzähne oder beschnittener Penis, lackierte Fingernägel oder Nasenpiercing: All das kennzeichnet uns als Mitglieder bestimmter Gruppen, abhängig von Zeit, Geografie, Religion oder kultureller Zugehörigkeit.
Körper werden also nicht geboren, sondern gemacht. Zur wirtschaftlichen Globalisierung gehört auch eine kulturelle Globalisierung. Für Orbach hat sie fatale Folgen für die Vielfalt im Blick auf unterschiedlich geprägte Körper, Körperideale und Körperkulturen. Eine »Celebrity-Kultur« weltweit bekannter Idole und Ikonen der Popkultur habe uns eine »heimtückische Form weltweiter Gemeinsamkeit« beschert. Was global, also integrativ und demokratisch erscheint, bringt in Wahrheit die Vielfalt der »Schönheiten« zum Verschwinden. Die Folge sei ein Ideal, das in Bezug auf Alter, Körpertypus und ethnische Zugehörigkeit eng begrenzt ist.
Allgegenwärtige, überlebensgroße, digital bearbeitete und verbreitete Bilder von makellosen Individuen mit Idealkörpern erzeugen eine hyperbewusste, hyperkritische Haltung dem eigenen Körper gegenüber. Dabei propagiert die globalisierte Werbung den idealisierten, schlanken, westlichen Frauenkörper und setzt besonders Frauen unter Druck.
Der postmoderne Mythos (und Fluch) ist der der Selbsterfindung: Jede und jeder kann »dazugehören«, so geht dieser Mythos, wenn es ihm oder ihr gelingt, die richtigen körperlichen Marker zu setzen, sich das richtige Aussehen und den richtigen Körper zu verschaffen. Wenn dieser Mythos auf ein immer schmaleres Ideal trifft (im doppelten Sinn), wächst das Elend, weil unser Körper damit ständiger Aufmerksamkeit und Kontrolle bedarf.
Doch trotz aller Machbarkeitsversprechen gibt es letztlich kein Entkommen aus gewissen Koordinaten des Körpers: seinem Alter, seiner Hautfarbe, seinem Geschlecht.
Was die Not vergrößere, sagt Susie Orbach, ist, dass derstandardisierte jugendliche Körper, den die Welt auf Schritt und Tritt propagiert sehe und den die Menschen sich dann selbst zu erschaffen suchen, kein stabiler Körper ist. Was sie damit meint, geht über die Banalität, dass alles Leibliche irgendwann verfällt, weit hinaus. Auch Frauen, die dem Schönheitsideal zu entsprechend scheinen, leiden nämlich an ihren Körpern, weil die Möglichkeiten zum Defizit, zum »Schönheitsfehler« unbegrenzt sind.

Wer schlank ist, ist vielleicht nicht groß genug, wer groß genug ist, hat vielleicht zu kleine oder zu große Brüste, einen Po, der nicht straff genug ist, nicht dem Ideal entsprechende Hände oder Füße oder die falschen Schamlippen. »So wie wir Karl Marx zufolge von Verhältnissen beherrscht werden, die wir nicht als selbst geschaffen durchschauen, werden Frauen heute von einer visuellen Kultur beherrscht, die sie nicht als von anderen geschaffen durchschauen«, sagt die Therapeutin über das große Geschäft mit dem Körper.
Optimierungswahn, Fitnesstracker, Schrittzähler, permanente (Selbst-) Kontrolle und Verhaltensanpassung: Was auf die »Verschönerung« und »Verbesserung « des einzelnen Körpers zielt, unterminiert am Ende das Körper- und Selbstwertgefühl aller. Die sich dann in den sozialen Netzwerken, auf Instagram und Facebook gegenseitig beschämen – Stichwort »Body Shaming« oder »Fat Shaming «. Orbachs bittere Bilanz: »Unsere Vorstellung eines gesunden Körpers ist so aus dem Gleichgewicht geraten, dass unsichere Menschen ihre eigenen Körper stärken, indem sie andere – diejenigen mit dicken Körpern – als wertloser, unfähiger und weniger arbeitsfähig ansehen.« Hinter der Verachtung dicker Menschen steht meist nichts anderes als Selbsthass.
Genau hier setzte im Frühjahr 2017 das Filmprojekt »Embrace« ein, das in Deutschland von der Schauspielerin Nora Tschirner unterstützt wurde. Die Australierin Taryn Brumfitt dokumentiert darin ihren jahrelangen Kampf um die Schönheit. Nach einer geplanten (und wieder abgesagten) Schönheitsoperation, einer Bodybuilding-Karriere und zahlreichen von Selbsthass geprägten Momenten vor dem Spiegel kam sie schließlich zu der Erkenntnis: Es ist nicht mein Körper, den ich ändern muss, sondern meine Einstellung zu mir selbst.
Aber selbst gut gemeinte Projekte gegen Körperscham wie der Film »Embrace« oder Werbekampagnen, wie die des Kosmetikherstellers »Dove«, die sich für ein »realistischeres« Bild vom Frauenkörper einsetzen, dürften an Orbachs Befund vorerst wenig ändern. Sie kratzen nur an der Oberfläche. Von den modernen Schlachtfeldern der Schönheit kommt derzeit niemand wirklich unbeschadet.

Orbach, Susie: Bodies. Schlachtfelder der Schönheit. Arche Verlag 2012, 208 Seiten, ISBN 978-3-7160-2691-5, 14,95 Euro
Bezug über den Buchhandel oder den Bestellservice Ihrer Kirchen­zeitung: Telefon (0 36 43) 24 61 61

Autor:

Online-Redaktion

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