Pro & Kontra: Chance für mehr Gerechtigkeit – Risiko für größere soziale Spaltung

PRO: René Thumser, Referent für landeskirchliche Großveranstaltungen im Gemeindedienst der EKM
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Pro:

Allgemeiner Konsens ist wohl, dass unsere Gesellschaft eines Systems der sozialen Sicherung bedarf, welches dafür sorgt, allen Mitgliedern der Gemeinschaft ein Leben in Würde zu ermöglichen. Die Frage ist, ob das bestehende System unseren Ansprüchen und Möglichkeiten (noch) genügt.
Trotz wachsender Wirtschaftsleistung werden Reiche immer reicher und Arme immer ärmer. Die Wahrscheinlichkeit, in Altersarmut, Kinderarmut oder prekären Arbeitsverhältnissen zu landen, wächst. Existenzsorgen lösen bei vielen Menschen Unsicherheit und Ängste aus. Eine Fortschreibung dieser Entwicklung gefährdet den sozialen Frieden und letztlich die Demokratie.
Die klassischen Instrumente der Armutsbekämpfung (»Hartz 4«-Gesetze) haben es in den letzten 14 Jahren nicht geschafft, diese Entwicklung aufzuhalten. Vielleicht kann die visionäre, also zukunftsweisende und über herkömmliche Denkmuster hinausragende Idee des Bedingungslosen Grundeinkommens (BGE) – existenzsichernd, Teilhabe ermöglichend, ohne Bedürftigkeitsprüfung, ohne Zwang zu Gegenleistung, individueller Rechtsan-
spruch – genau hier ansetzen. Es gibt Studien und Experten, die unterschiedliche Modelle des BGE für finanzierbar und umsetzbar halten, und solche, die das widerlegen. Die Realpolitik hält sich noch weitestgehend zurück, man möchte sich nicht zu früh festlegen. Ich bin mir sicher: wenn wir die Idee des BGE in einer sich rasant ändernden
Arbeitswelt als relevant erachten, finden wir eine Umsetzungsmöglichkeit.
Es geht in der Debatte BGE um einen Paradigmenwechsel, um das Menschenbild, um Vorurteile, um Erfahrungen, um Gefühle und nicht zuletzt um Wertvorstellungen und Glauben. Was kann ich als Christ einbringen?
Im Jahr 2017 feierten wir unter anderem Luthers große Erkenntnis, dass wir uns das Himmelreich nicht verdienen können – weder durch Geld, noch durch Taten. Wir sind bereits angenommen als bedingungslos geliebte Kinder des Vaters. Was für ein Bild! Wir müssen und können uns Gottes Liebe, Gnade und Anerkennung nicht verdienen. Wir erhalten sie ohne Vorleistung, Zwang und Bedürftigkeitsprüfung. Sie wird jedem als Voraussetzung für ein gelingendes Leben geschenkt, um daraus folgend in Freiheit das Richtige zu tun. Darüber hinaus nimmt der Vater selbst den zunächst »faulen«, verlorenen Sohn wieder an (Lukas 15,24).
Übertragen wir diese Bilder in unseren familiären Alltag und unsere gesellschaftliche Realität: Welchen Kräften vertrauen wir wirklich: Druck und Sanktionen oder Freiheit und Liebe? Ich glaube, Jesus wäre ein Befürworter des BGE.
René Thumser,Referent für landeskirchliche Großveranstaltungen
im Gemeindedienst der EKM

Kontra:

Seit der Einführung der Krankenversicherung im Jahr 1883 in Deutschland bildet der Wohlfahrtsstaat die Grundlage unseres wirtschaftlichen Erfolges und des sozialen Friedens. Wollen wir diese historische Errungenschaft, für die wir weltweit beneidet werden, durch ein gesellschaftliches Experiment ernsthaft gefährden?
Bisher leben wir in einer Gemeinschaft, die auf dem Grundprinzip der Solidarität beruht. Darunter verstehe ich eine Form des gesellschaftlichen Zusammenlebens, in der durch gegenseitige Hilfsbereitschaft individuelle Nöte solidarisch aufgefangen werden. Eine solidarische Haltung setzt voraus, dass sozialrechtliche Regelungen, wie zum Beispiel Kranken-, Pflege- oder Rentenversicherung, als gerecht empfunden werden. Auch das Prinzip »Fordern und Fördern« bringt zum Ausdruck, dass niemand bedingungslos, das heißt ohne einen Beitrag zum Gemeinwesen, Leistungen empfangen kann. Dieses Grundprinzip halte ich für gerecht.
Wie soll ich erklären, dass Menschen Leistungen beziehen, aber nicht zum Volkseinkommen beitragen, obwohl sie es könnten? Ein bedingungsloses Grundeinkommen gefährdet aus diesem Grund den sozialen Zusammenhalt in Deutschland.
In den vergangenen 135 Jahren hat sich unser Wohlfahrtsstaat kontinuierlich weiterentwickelt. Unsere soziale Absicherung ist heute in den insgesamt zwölf Sozialgesetzbüchern festgehalten, deren Ausgestaltung regelmäßig diskutiert und überarbeitet wird. Zuletzt im Rahmen des Koalitionsvertrages, an dem ich selbst, als Mitglied der verhandelnden Arbeitsgruppe, mitgewirkt habe. Die Einführung des bedingungslosen Grundeinkommens hätte die vollständige Auflösung unseres Sozialsystems zur Folge. Über die resultierenden Auswirkungen gibt es bis heute keine zuverlässlichen Fakten. Dieses Risiko kann und möchte ich als Mitglied des Deutschen Bundestages, der zuletzt über eine endgültige Einführung zu entscheiden hätte, nicht verantworten.
Da sich unser Leben gegenwärtig in nie dagewesener Geschwindigkeit verändert, werden wir auch unser Sozialsystem weiter überarbeiten müssen. Wir brauchen bessere Arbeitsbedingungen, flexiblere Arbeitszeiten, eine bessere Vereinbarkeit von Familie und Beruf und vor allem eine Fokussierung auf lebenslanges Lernen. Diese Herausforderungen können alle im Rahmen der bereits bestehenden Sozialgesetzbücher gemeistert werden. Ich bin davon überzeugt, dass sich Arbeit auch in Zukunft lohnen muss. 
Albert H. Weiler, Bundestagsabgeordneter, Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales

PRO: René Thumser, Referent für landeskirchliche Großveranstaltungen im Gemeindedienst der EKM
KONTRA: Albert H. Weiler, Bundestagsabgeordneter, Mitglied des Ausschusses für Arbeit und Soziales.
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