Gelöschte Spuren – Gottes Gedächtnis
WELLE - TEILCHEN - GNADE

- hochgeladen von Matthias Schollmeyer
Wenn man verstehen will, ob, wann, wo und warum die Quantenphysik wesentliche Fragen der Theologie berührt, muss man beim Einfachsten beginnen. Das einfachste und doch zugleich rätselhafteste Experiment ist das Doppelspalt-Experiment.
Man denke sich Folgendes: Ein Lichtstrahl, zerlegt in einzelne Lichtteilchen, die wir Photonen nennen, wird auf eine Wand mit zwei schmalen Öffnungen gelenkt. Dahinter liegt ein Schirm, der anzeigt, wo die Teilchen aufschlagen. Wenn wir viele solcher Photonen senden, ohne hinzuschauen, durch welchen Spalt sie gehen, so erscheint auf dem Schirm kein Bild von zwei Lichtstreifen, wie man es erwarten würde, wenn die Teilchen einfach durchgingen, sondern ein Muster von hell und dunkel, das wir ein Interferenzmuster nennen. Dieses Muster zeigt: Jedes Photon verhält sich so, als sei es eine Welle, die durch beide Öffnungen zugleich gegangen ist, und die mit sich selbst in Schwingung gerät.
In der Geschichte der Quantenphysik haben drei aufeinander folgende Experimente von sich Reden gemacht. Die erste Stufe ist das sogenannte Delayed-Choice-Experiment, das Wheeler im Jahr 1978 vorstellte. Es ist eine Variante des Doppelspalt-Experiments. Das Photon durchläuft die beiden Spalte. Doch die Entscheidung, ob wir seinen Weg messen wollen oder nicht, fällt erst, nachdem das Photon den Spalt längst hinter sich gelassen hat. Das Unerhörte ist, dass sich dennoch das Bild so zeigt, als ob unsere spätere Entscheidung die Gestalt seiner früheren Bahn bestimmt hätte. Entscheiden wir uns für die Wegmessung, so erscheint es als Teilchen. Wählen wir sie nicht, so erscheint es als Welle. Die Vergangenheit bleibt gleichsam offen bis in die Gegenwart hinein.
Die zweite Stufe ist das sogenannte Quantum-Eraser-Experiment, das Scully und Drühl in den achtziger Jahren beschrieben. Hier geht es darum, dass die Weg-Information nicht sofort sichtbar gemacht wird, sondern zunächst in einer Spur aufbewahrt werden kann. Diese Spur lässt sich später entweder löschen oder bewahren. Bewahren wir sie, so erscheint das Photon als Teilchen. Löschen wir sie, so kehrt das Interferenzmuster zurück. Der entscheidende Gedanke ist: Es genügt nicht, dass die Information einmal existiert hat. Entscheidend ist, ob sie verfügbar bleibt oder ob sie unwiderruflich ausgelöscht wird.
Die dritte Stufe ist schließlich das Delayed-Choice Quantum Eraser Experiment, das in den neunziger Jahren verwirklicht wurde. Hier verbinden sich die beiden Gedanken: das spätere Wählen und das Löschen der Information. Die Entscheidung, ob die Weg-Information endgültig gelöscht wird, fällt erst, nachdem das Photon bereits am Schirm registriert ist. Dennoch zeigt sich das Bild, als ob diese spätere Entscheidung die Gestalt des bereits Geschehenen bestimmt. Der feine Unterschied zum Quantum Eraser Experiment ist der: Hier löscht oder bewahrt man die Spur rechtzeitig, bevor man das Endresultat fix betrachtet. Beim Delayed-Choice Quantum Eraser Experiment löscht man oder bewahrt die Spur zeitlich nachträglich, erst wenn das Photon am Schirm längst angekommen ist.
Wir sehen in diesen drei Stufen eine gemeinsame Linie: Vergangenheit und Gegenwart sind in der Quantenwirklichkeit nicht starr voneinander getrennt. Was war, ist nicht endgültig fixiert, sondern erhält seine Bestimmtheit durch den Akt der Beobachtung, der oft später geschieht. Das ist der Kern: Die physikalische Wirklichkeit zeigt uns, dass Vergangenheit nicht abgeschlossen ist, solange nicht entschieden ist, wie wir sie sehen. An dieser Stelle beginnt der theologische Gedanke. Wir leben alle in der Annahme, dass unsere Vergangenheit festliegt, dass sie uns bindet und dass sie uns vor Gott einmal beschämen muss. Aber die Botschaft des Evangeliums sagt: Es ist nicht die Vergangenheit als solche, die über uns Gericht hält. Es ist der Blick Gottes, in dem unser Leben zur Wahrheit gelangt. So wie das Photon nicht einfach „von selbst“ Teilchen oder Welle ist, so ist auch das Leben des Menschen nicht von sich aus schon endgültig entschieden. Erst im Blick Gottes wird offenbar, wer der Mensch war und ist.
Darum spricht die Schrift so eindringlich von Erinnerung. „Gedenke, Herr, deiner Barmherzigkeit.“ „Gedenke meiner, wenn du in dein Reich kommst.“ Nicht wir selbst schreiben die letzte Deutung unseres Lebens, sondern Gott ist der, der erinnert. Sein Erinnern ist nicht bloße Wiederholung der Vergangenheit, sondern schöpferische Vergegenwärtigung. Im Auge Gottes sind wir nicht Gefangene dessen, was war. Im Auge Gottes werden wir das, was wir von Anfang an gemeint waren.
So zeigt die Physik ein Gleichnis: Vergangenheit bleibt offen, bis sie im Akt der Beobachtung festgelegt wird. Und die Theologie sagt: Vergangenheit bleibt offen, bis sie im Akt des göttlichen Erinnerns vollendet wird. Das letzte Wort über unser Leben ist nicht das Archiv der Schuld, sondern das schöpferische Gedächtnis Gottes, das spricht: „Du bist mein.“
Autor:Matthias Schollmeyer |
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