13.11.2022
Volkstrauertag

„Dass wir Deine Herrlichkeit
können recht erfassen,
wirfst Du über uns das Leid,
führst uns dunkle Straßen.”

Wer von uns hat sie überhaupt jemals gekannt - die erste Strophe dieses protestantisches Kirchenliedes aus dem Jahr 1937, das eigentlich ein Gebet ist. In den Gesangbüchern fehlt es. Gerhard Fritzsche hat den Text damals gemacht, Gerhard Häußler setzte die Musik dazu.

Genau diese Verse nun hat man in die Predella einer Gedenktafel für die Gefallenen des 2. Weltkrieges eingegraben. Der kleine Ort Bülzig im Kirchenkreis Wittenberg wollte wohl kein zweites Gefallenendenkmal draußen auf seinem Dorfplatz errichten lassen - oder durfte es nicht. Und da hat eben die Kirchengemeinde den Namen jener Männer von 1939-45 einen Platz im Gotteshaus des Dorfes gegeben. Das wird uns auch weiter als Aufgabe bleiben: Keinen zu vergessen, der sein Leben hingegeben hat oder hergeben musste. Wo ist da letzten Endes auch ein wirklicher Unterschied für die, die davon betroffen wurden? Wir alle sind ja angekettet an die Verstrickungszusammenhänge der jeweiligen Lebenszeit - damals und heute. Draußen auf dem Dorfplatz steht jedoch ein Denkmal aus früheren Zeiten: Für die Gefallenen aus dem Krieg 1914-1918. Alle Namen sind hier verzeichnet - samt dem bekannten Spruch eines Obertertianers namens Reinhold Samuelsohn:

Sie opferten Zukunft und Jugendglück,
sie kehrten nie wieder zur Heimat zurück
für uns!

Sie gaben ihr Alles, ihr Leben, ihr Blut,
sie gaben es hin mit heiligem Mut
für uns!

Es gibt kein Wort für das Opfer zu danken
und es gibt keinen Dank für sie, die da sanken
für uns!

Nach dem Zusammenbruch 1945 haben die neuen Volksführer Samuelsohns Text entfernen lassen. An der verwaisten Stelle wurde ein anderer Denkspruch angebracht: DIE TOTEN MAHNEN (Großbuchstaben und die in deutscher Fraktur). Was diese Mahnung nun genau aussagt, bleibt im Verborgenen. Es kann heißen: „Jungs, lasst die Finger vom Krieg.” Oder auch: „Wir haben da noch eine große Rechnung offen!”

Alle drei Sprüche sind heute noch zu lesen, die Kirche ist sowieso immer geschmückt - und von Zeit zu Zeit liegen sogar auch Blumen am Fuße des in kyffhäusischer Völkerschlachtsdenkmalmanier errichteten Dorfmonuments aus der Weimarer Zeit. Es war eine alte Bäuerin, die konnte sich an den Spruch des Obertertianers noch erinnern. Und so ist derselbe 1991 wieder angebracht worden. Beide Sprüche, der des Jungen mit dem schönen Namen Samuelsohn und die Totengeistertafel - von den mahnenden Manen - sind die ersten Schriftbotschaften, welche den Wanderer begrüßen, wenn er vom Bahnhof kommend das kleine Dorf Bülzig betritt. Führt ihn sein Weg dann gar in die Kirche St.Katharina, liest er auch davon, wie Gott angeblich nichts unterlässt, damit wir seine Herrlichkeit recht erfassen können: Er benutzt nämlich sogar das Leid als pädagogisches Mittel und wirft es über uns wie ein Festgewand. So könne man meinen, so könnte man missverstehen. Und manche möchten es genau so missinterpretieren und die Kirche mit ihren Liedern und Texten verdammen.

Doch es ist alles ganz anders. Freilich - jene drei Sprüche (die draußen vor der Tür und der im Inneren der Kirche) werden von der Kraft des Paradoxalen getragen: Rätsel, Opfer, kein Dank. Aber mit Hilfe solcher Aussagen, die in der Großerzählung der christlichen Kirche und ihrer Sakramentsfeiern gebändigt als feierbare Ordnung vorliegen und die uns auf unserem Weg stützen, so dass wir an der Tatsache des begrenzt sterblichen Seins nicht verzweifeln, mit dieser Hilfe können wir demütig niederknien und leise „Amen!” sagen. Genauso ist das.

Die Leute, die an den Straßengräben auf der Flucht gestorben sind, in den Schützengräben umkamen - wenn man sie alle nur nicht vergisst, muss gar nicht von viel Schlimmerem noch geredet werden - sie alle haben in den letzten Sekunden ihres Lebens zum Himmel geschaut. Durch den Pulverdampf und den klirrenden Frost mag ihnen ein Stern geglänzt haben. Johann Sebastian Bachs Arie „Bist Du bei mir!” tröstet jeden, der sterben musste. Diese Musik oder ein anderer Spruch aus der Bibel, wenn man ihn, wenn auch nur bruchstückhaft, erinnern wird ... Hier im Folgenden gut zu hören:

„Bist du bei mir,
geh ich mit Freuden
zum Sterben und zu meiner Ruh.
Ach, wie vergnügt wär so mein Ende,
es drückten deine schönen Hände mir die
getreuen Augen zu.“

Text: Gottfried Heinrich Stölzel: Diomedes. Musik J.S.Bach

Autor:

Matthias Schollmeyer

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