LUTHER - VORVORGESTERN 540 JAHRE ALT
GEBURTSTAGSGABE (4)

die Schnecke Moluska zu Luther

Kaum einer wollte heuer des 540. Geburtstags von Martin Luther gedenken. Deshalb möchten die Tiere dem großen Reformator bis zum Ende des düsteren Novembermonats einige Lobessbriefe senden. Wie also schon Lazarus aus dem Lukasevangelium (16,20) seine Wunden von Hunden geleckt bekam, wird nun ganz ähnlich solche Solidarität Vater Luthern zuteil. Lest hier den Brief der Schnecke:

"... ich, Mollusca bin nach der Schildkröte ebenfalls mit Achilles um die Wette gelaufen. Genauso wenig wie sie hat auch er mich einholen können. Darüber beschwerte sich der Fast-Halbgott bei Odysseus, als dieser am Eingang zum Hades das bekannte Widderopfer darbrachte und ein paar von den heraufdringenden Schatten interviewen durfte. Es kommt darauf an, dass wir aus unseren Fehlern lernen. Achilles war zwar ein schneller Läufer. Aber hatte von Mathematik nicht viel Ahnung. Er ließ sich damals aufschwatzen, er könne immer nur die Hälfte desjenigen Weges zurücklegen, den ich gerade eben gelaufen bin. Dabei wurden die Zeiteinheiten nicht integrativ berechnet, sondern sozusagen analog. Ich blieb gleich schnell, er wurde immer langsamer, weil er sich auf diese dumme Definition eingelassen hatte.

Leute, merkt Euch - es kommt darauf an, auf welche Definitionen wir uns einlassen. Wenn wir uns auf irgendwelche Definitionen einlassen, sind wir meistens gezwungen, ihnen lange folgen zu müssen.
Der Luther, um seinetwillen schreibe ich diese Erinnerung nieder, hat sich zuerst nicht auf die alten theologischen Definitionen seiner Zeit einlassen wollen. In seiner frühen rebellischen Phase verfasste er einige Thesen gegen den Ablasshandel. Aber als er den Tod nahen spürte, da wurde er wankelmütig - und schließlich knickte er ein und schwenkte zu den Traditionalisten über. Er wollte einfach nicht in die Hölle kommen. Und dazu war nötig, dass er behaupten musste, dass es dieselbe gibt. Reine Definitionsangelegenheit. Solche oder ähnliche Sinneswandlungen bei alten Herren vollziehen sich ganz langsam, sozusagen im Schneckentempo des Schlafs. Selber bemerkt man gar nicht, wenn sich irgendwo im Hirn bisher leere Regionen herausnehmen, das von den Neurologen sogenannte biographische Gedächtnis zu erstellen, dessen Inhalte zuerst fiktiv, dann immer realer werden, bis sie schließlich alles andere ausgetilgt und mit einer rein persönlichen Fiktion überschrieben haben.
Deshalb auch ist Vergessen Gnade. Sie hat sich beim Luther dann im Alter wie bei jedem von Euch Menschen natürlich auch pünktlich eingestellt. Die Gnade des Vergessens. Wer immer wiederholt und wiederholt hat, der wird für systeminko- härente Fakten untauglich, immun und gegen sie sehr aggressiv. Er überschreibt das Fremde mit irgendwas Starkem, das die Emotionen beflügelt. Das sind die Wiederholungen der alten Männer. Und daraus wird schließlich Dankbarkeit für das Vergessene. Dass man schließlich vergisst, was man vergessen hat, wird als Gnadenerlebnis wahrgenommen, oder zumindest in diesem Sinne interpretiert.
Damals in Eisleben sammelten, noch als Kinder, Martin und seine Gefährten immer meine Vettern und Basen ein. Gartenschnirkelschnecken. Das sind Schnecken mit Haus. Ich bin so eine auch ... Nacktschnecken sind doof, - aber das nur nebenbei.
Oft haben die Knaben sich eine Schnecke hergenommen und sie sanft angehaucht. Dabei sang man:

'Schnecke, Schnecke komm heraus. Komm aus deinem kleinen Haus. Zeug mir deine Hörner her, Schnecke, das ist gar nicht schwer.'

Die Schnecke ist beim Gesang und des warmen Hauchens wegen natürlich gleich herausgekommen - und die Knaben haben ihr auf die Hörner getupft. Die Schnecke hat die Fühlhörner daraufhin eingezogen. Und dann ging alles wieder von vorn los. Später hat der Papst das mit Luther auch gemacht. Dann Luther mit dem Papst. Zum Schluss hat sich jeder in ́s eigene Schneckenhaus zurückgezogen. Und jeder hat leise sein Lied gesungen. Neunundzwanzig Jahre noch. Das muss man sich mal vorstellen. Wie lange sowas dauert.
Was ich sagen will - es ist alles so langsam. Man merkt nicht, wie sich etwas verän- dert. Vielleicht verändert sich ja auch gar nichts? Die Gnade im Alter ist, dass sich alles so enorm verlangsamt, obwohl sich das Ganze zu beschleunigen scheint. Es ist die sich immer mehr verlangsamende Beschleunigung. Oder die sich beschleuni- gende Verlangsamung. Lacht nicht, das gibt es. Dem Luther kommt das Verdienst zu, dass er einer der Ersten von denen gewesen ist, die das Ganze, von dem ich hier zu schreiben versuche, ziemlich genau dokumentiert haben. Weil er soviel geschrieben und erzählt hat. Also besonders eben von ihm haben wir wichtige Hinweise auf den Exzess der Geschwindigkeiten, der im Leben der Menschen in den letzten Jahren vor dem Tode vor sich geht. Die Neurowissenschaft forscht heuer viel. Es werden dabei auch unsere Nervenzellen genutzt. Ja - die Versuche mit Schnecken. Viele meiner Schwestern mussten schon sterben für die Erforschung einfacher Nervenaffektionen bei Euch Menschen, schämt Euch. Aber anders herum, - dadurch wissen wir Schnecken so besonders gut, wie ihr Menschen tickt.
Luthers Hirn war dem einer Schnecke ziemlich ähnlich. Genial, - aber angesichts der zur Verfügung stehenden Lebenszeit eben auch zu langsam. Erschwerend kam hinzu, dass er selber nie ganz aus dem Haus gekommen ist. Er ist immer wieder hineingekrochen. Dort, in seinem mittelalterlichen Schneckenhaus ist er dann auch geblieben. Tragisch eigentlich ... Aber, weil er so langsam war, kommt er heutigentags bei vielen gut an. Sehr gut sogar. Es hat eben nur 540 Jahre lang gedauert ...

Moluska - die Schnecke

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alle Tierbriefe hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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