im Auge des Tigers
Geburtstagsgabe (10)

… da nun im Jahre 2023 des Geburtstages von Martin Luther nicht viel  oder sogar überhaupt nicht gedacht wurde, schreiben die Tiere  ihre Mutmaßungen den großen Reformator betreffend nieder:

Ich gebe zu, dass ich gerne Menschenfleisch esse. Ich bin ein asiatischer Tiger, auch wenn ich hier in Moskau leben muss. In Asien sind die Sitten sehr speziell. Wir schleichen uns von hinten an die sogenannten Opfer ran. Sprung, Biss, Festmahl. Der Löwe dagegen gibt dem Gegner immer noch so eine Restchance. Er greift nur von vorn an oder von der Seite. Wir Tiger nicht. Wir springen anders. Heimtückisch eben. Kann sein, dass ich deshalb nicht der Tierkönig geworden bin? Egal - solange es genug zu fressen gibt.

Den Luther würde ich gern fressen. Denn da ist richtig was dran. Der Kerl würde mir schmecken. Aber - er steht mit einem mächtigen Gott im Bunde und hat zwischen sich und mich erstens 500 Jahre Distanz gebracht und zur Sicherheit ist zweitens noch das Gitter da.

Ich, Tiger, wurde im Gebiet des Amurdaja geboren und drei Wochen danach bereits gefangen genommen. Ein Mann freien Oberkörpers, genannt Putin, war mit wilden Gesellen auf der Jagd. Meine Mutter wurde von einer 0.416 Rigby aus der getunten Dragunov des Menschen Putin getroffen. Sofort tot. Ich musste mit ansehen, wie drei Jäger ihr das schöne kuschelige Fell über die Ohren gezogen haben. Meine Mutter ist jetzt ein Bettvorleger bei irgendeinem Oligarchen in Wladiwostok. Ich und meine kleine Schwester wurden in den kratzenden Sack gesteckt und nach Moskau in den Zoo gebracht. Da sind wir nun - und können nicht weg.

Unser Wärter ist ein Deutscher. Das heißt, sein Großvater war aus Deutschland. Er als Wärter ist nur der Enkel und bereitet sich auf seine Ausreise vor. Er will auch aus dem Moskauer Zoo weg. Aber nicht zum Amur, wie ich, sondern in dieses ferne Land, wo es extrem kalt sein soll. Er lernt sehr fleißig die Sprache der Deutschen. Dazu benutzt er ein Büchlein. Der Mann, der das Buch geschrieben hat, heißt Martin Luther. Und Katechismus heißt das Buch. Ein Bild von dem Autor ist vorn auf der ersten Seite des Buches zu sehen. Daher weiß ich, dass der einen guten Bissen abgäbe - für mich und meine Schwester. Denn, wie schon gesagt, er ist sehr, sehr gut ernährt. Ich würde ihn gern fressen. Auch den Wärter, obwohl der dünn ist. Und leider schlau. Denn er stellt immer das Gitter zwischen sich und uns Tiger.

Dieser Wärter liest und lernt laut. Da können wir dann nicht schlafen. Immer liest er. Laut. Manchmal brülle ich. Dann höre ich wieder zu. Es bleibt mir nichts anders übrig. Da gibt es etwas, das heißt Gnade. Ich glaube, dass Gnade auch ein besonderes Essen ist, das eben Gnade heißt. Wie Schokolade. Nur eben ohne Schoko. Wenn der Wärter das Wort „Gnade“ liest, läuft mir das Wasser im Tigermaul zusammen. Diese Gnade muss sehr, sehr gut schmecken, denke ich. Dann gibt es noch das Wort „Verdienst“. Ich stelle mir vor, dass dieses Verdienst ungenießbar ist. Es schmeckt nicht. Aber die Gnade und den Luther, die tät ich beide wohl gerne fressen.

Taigerman - der Tiger

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alle Tierbriefe hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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