Kleine Geschichte des Losungsbuchs
Das Wort als Waffe

Es mochte gegen halb elf am Abend gewesen sein, als es an der Tür klingelte und sodann ein Lärm einsetzte, so heftig, dass er kein Ende zu nehmen schien – so jedenfalls berichtete Frau Bertha Wohlgemuth, die ehemalige Kirchrechnerin von St. Maxima zu Merseburg, auf die höfliche, aber insistierende Frage des Kriminalobermeisters Müller, der sie gebeten hatte, die Ereignisse der vergangenen Stunde in chronologischer Ordnung wiederzugeben.

Frau Wohlgemuth war eine jener unverwechselbaren Gestalten aus den letzten Jahrzehnten der DDR, die es verstanden hatten, zwischen staatlicher Apathie und kirchlicher Beharrung eine Nische zu behaupten. Sie hatte Kirchensteuern eingetrieben – mit Erfolg, wie man hörte –, und sich von renitenten Zeitgenossen nicht einschüchtern lassen. Seit zehn Jahren war sie entpflichtet, doch ihr Name besaß noch Klang in den Straßen Merseburgs.

Kriminalobermeister Müller – ein korrekter, aber nicht übermäßig frommer Mann mittleren Alters – hatte an diesem Abend, dem 31. Oktober 2025, den Bereitschaftsdienst seiner jungen Kollegin Sophie Haas übernommen, jenes Dienstes wegen, der ihn unversehens in das Herz einer sonderbaren Geschichte führen sollte, einer Geschichte, die in seriöseren Kreisen noch Reformationsfest, im Volksmund aber längst Halloween genannt wird.

Er saß nun auf dem ihm angebotenen Küchenstuhl – einem der alten, mit grauem Kunstleder bezogenen Modelle aus DDR-Produktion – und ließ den Blick über die bescheidene Einrichtung schweifen: eine Wachstuchdecke, auf der eine Fernbedienung und ein blaues Heftchen lagen, das auf eigentümliche Weise sehr gebraucht aussah.

Bertha Wohlgemuth, die immer noch unter dem Eindruck des Geschehenen stand, schluchzte leise. „Herr Kriminalobermeister“, sagte sie mit zitternder Stimme, „ich wollte das doch nicht. Ich musste mich doch nur verteidigen!“ Und mit einer Bewegung, die halb Entschuldigung, halb Beschwörung war, klopfte sie mit den Knöcheln auf das blaue Heftchen. Das Klopfen ergab keinen klaren Ton, sondern nur ein dumpfes Patschen – wie der Schuss eines schallgedämpften Kleinkalibers.

Ihr Urenkel Sven war Jäger und hatte sie einmal auf die Pirsch mitgenommen. An jenem Tag war ein Fuchs sein Leben losgeworden, und dessen Pelz zierte nun den Kragen ihres Wintermantels. Den Schuss – jenes leise, dumpfe Patschen – meinte sie noch zu hören, wenn sie auf das Losungsheftchen der Herrnhuter Brüder klopfte.

Der Kriminalobermeister, bemüht, sich professionell zu geben, bat die alte Dame noch einmal um eine exakte Schilderung des Vorgangs. Es bestehe, wie er sagte, der Verdacht, dass bis zu vier Personen zu Schaden gekommen seien, und man müsse ausschließen, dass Frau Wohlgemuth dabei eine schuldhafte Rolle gespielt habe.

„Oh Gott, oh Gott, Herr Kriminalobermeister! Kann denn ein so kleines Büchlein so großen Schaden anrichten?“ rief sie aus und hielt das Heftchen hoch. Müller betrachtete es aufmerksam. Das Blau erinnerte ihn an eine Wahlwerbeschrift der AfD – nur ohne Rot, mit weißer Schrift: „LOSUNGEN“, stand darauf. Die Punkte über dem O fehlten. Wohl ein Rätselheft, dachte Müller, etwas gegen die Langeweile alter Menschen.

Er wiederholte seine Aufforderung: „Bitte erzählen Sie alles, Frau Wohlgemuth, und zwar der Wahrheit gemäß.“

Sie richtete sich, nun gefasster, auf und begann: Man habe gerade im „Fernsehfunk“ – sie gebrauchte tatsächlich dieses Wort – die Serie Monk auf RTLup gesehen. Ein Kriminalbeamter, sagte sie erklärend, so wie er auch einer sei, nur etwas eigenartig, weil er keine schiefen Bilder ertragen könne und sie millimetergenau gerade hänge. Ein Jude sei dieser Monk, aber das störe nicht, er löse die schwierigsten Fälle mit übermenschlicher Ruhe.

Gerade, als jener Monk wieder diesen Blick ins Unendliche zeigte, habe es an der Tür geklingelt. Halb elf! Wer mochte das sein? Sie habe sogleich an das Halloween-Gesindel gedacht, das man aus dem Fernsehen kenne, und die Bonbontüte zur Hand genommen, die sie am Nachmittag in der Kaufhalle erstanden hatte. Dann öffnete sie die Tür.

Vier Gestalten standen da. Keine Kinder – Erwachsene! Schwarze Bettlaken um die Schultern, Gesichter weiß wie Knochen, maskenhaft und stumm. Sie hätten nichts gesagt, kein „Süßes oder Saures“, nichts. Nur gestarrt. Und als sie versucht habe, die Tür wieder zu schließen, sei das nicht möglich gewesen, sie hätten in der Schwelle gestanden, unbeweglich, bedrohlich.

„Ich habe dem Vordersten die Tüte mit den bunten Gummibärchen hingestreckt“, erzählte Frau Wohlgemuth, „‚Guten Appetit‘ gesagt und dann ‚Bitte gehen Sie!‘ – aber sie blieben. Und sie rückten näher.“

Sie schwieg, dann wiederholte sie – fast wie ein Mantra: „Oh Gott, oh Gott, Herr Kriminalobermeister! Kann denn ein so kleines Büchlein so großen Schaden anrichten?“

Der Kriminalobermeister blickte auf ihre Hände und musste, ohne zu wissen warum, an Dürers Mutter denken – dieselbe sehnige, von Arbeit und Gebet gezeichnete Zartheit. „Und dann?“, fragte er leise.

Dann, sagte Frau Wohlgemuth, habe sie die Gummibärchentüte fallen lassen, sei in die Küche geeilt, habe das Losungsheft genommen – das Heft der Herrnhuter Brüder.

„Was für Brüder?“, fragte Müller, halb irritiert, halb neugierig. Er dachte an nordische Bünde, an Wikinger, an dunkle Bruderschaften im vorderen Orient.

„Fromme Christen, Herr Kriminalobermeister“, sagte sie, „die für jeden Tag einen Bibelspruch ziehen – vom Grafen Zinzendorf her.“

Sie habe also den Tagesspruch laut vorgelesen, mit aller Kraft ihrer Stimme, gegen die vier Gestalten gerichtet – so, wie Mose und Aaron einst vor dem Pharao gesprochen hätten. Da habe es zweimal geknallt, wie eine Verpuffung, und zwei der Gestalten seien im Rauch verschwunden. Die beiden anderen hätten daraufhin die Arme gegen sie ausgestreckt und taumelnd den inneren Flur - und fast schon die Küche - betreten, wie in den Zombiefilmen, die ihr Urenkel so gern sehe. Da habe sie noch den Lehrtext aus dem Neuen Testament gelesen – und wieder, dieselbe Verpuffung, derselbe Rauch. Und die anderen beiden Gestalten hatten sich ebenfalls aufgelöst.

Dann sei Stille gewesen.

Als sie sich endlich gefasst habe und vor die Tür trat, habe sie im Rinnstein eine rötliche Flüssigkeit gesehen. Vielleicht Blut? Sie habe sofort, wie man es aus dem „Fernsehfunk“ kenne, die 110 gewählt.

Müller hörte schweigend zu.

Schließlich sagte er: „Kein Schaden ohne Nutzen, Frau Wohlgemuth. Eine ungewöhnliche Geschichte, ja, erstaunlich geradezu.“ Dann nahm er das Heft vom Tisch, steckte es sorgfältig ein und erklärte, man müsse das Druckerzeugnis „behördlich einziehen“ – nicht beschlagnahmen, gewiss nicht –, doch der Verdacht liege nahe, dass es als Waffe gedient habe, vielleicht sogar unter den Begriff des unerlaubten Waffenbesitzes bzw. verbotener Gegenstände falle. Der Sachverhalt müsse geprüft werden.

Er verabschiedete sich höflich, gegen 1.33 Uhr des Allerheiligentages, der inzwischen angebrochen war - und fuhr mit bedächtiger Geschwindigkeit zur Dienststelle. Unterwegs dachte er, halb spöttisch, halb verwundert, an „die Waffe der alten Frau“, wie er das Heft innerlich getauft hatte. Das wäre ein schöner Titel für einen Roman. Oder Film!

Frau Wohlgemuth hingegen setzte sich, wieder allein in ihrer stillen Küche, vor den Fernseher, um den Monk-Film zu Ende zu sehen. Es war fast drei Uhr, als der Abspann lief. Draußen dämmerte der Allerheiligentag, und morgen schon würde Allerseelen sein. Sie murmelte leise: „Oh Gott, oh Gott, kann denn ein so kleines Büchlein so große Dinge anrichten?“ Das Buch befand sich nun freilich nicht mehr in ihrem Besitz. Doch sie lächelte und fügte in Gedanken hinzu: „Ich hab ja noch zwei andere – und für 2026 ein ganz neues.“

Autor:

Matthias Schollmeyer

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