AHASVERS ABENTEUER
ADVENTURIA ECCLESIAE

Es gibt eine sonderbar anmutende Ähnlichkeit im Blick auf unsere Kirche und die Legende von Ahasver. Beider Zusammenhang erschließt sich vollständig erst dann, wenn man die beteiligten Gestalten nicht nur institutionell bzw. historisch-kritisch betrachtet, sondern mit einem tieferen geistlichen Selbstverständnis wahrzunehmen versucht. Genau das wird möglich wenn man mit Hilfe der Phantasie das Sichtbare durchschreitet, um das Unsichtbare zu suchen und wo man begreift, dass die Kirche nicht einfach eine geschichtliche Größe ist, sondern eine Gestalt, die zwar in der Zeit steht - aber zugleich über sie hinausragt.

In solchem Licht besehen ist der Weg der Kirche recht abenteuerlich. Im Abenteuer erscheint die Kirche als eine eigentümliche Wanderin, welche durch die Jahrhunderte ziehen muss. Alt und doch unverwüstlich, verwundet und doch unzerstörbar, müde und doch unermüdlich. Sie wandelt durch die Zeit mit der Beharrlichkeit eines Wesens, das kein Ende kennen darf - und manchmal wirkt es so, als sei sie tatsächlich jener geheimnisvollen Figur Ahasvers ähnlich, von dem die alte Legende erzählt: Ahasver musste ruhelos durch die Welt wandern, weil er Christus am Karfreitag begegnet war, ihn aber weiterzugehen aufforderte. Die ältesten Hinweise auf Ahasver reichen ins 12. Jahrhundert zurück. Dort kursieren Erzählungen über einen Mann, der dem ermüdeten Christus auf dem Weg zum Kreuz abweist: 

„Geh weiter! Verweile nicht!“

Darauf antwortet Christus mit einem Satz, der für Ahasver zum Schicksal wird: 

„Ich gehe, aber auch du wirst wandern, bis ich wiederkomme.“

Wenn man die dunkle Figur des verwunschenen Mannes Ahasver mit der Geschichte der Kirche vergleicht, entdeckt man bei aller Ähnlichkeit natürlich das Gegenbild sofort. Denn auch die Kirche geht zwar durch die Zeiten, sie verweilt nicht, sie bleibt nicht stehen – aber ihr Unterwegssein ist kein Fluch, sondern eine Sendung. Sie ist nicht verdammt zum Wandern; sie ist berufen dazu.

Die Weise, in der die Kirche durch die Jahrhunderte schreitet, hat tatsächlich etwas vom Ernst der Ahasver-Gestalt. Denn die Kirche war und ist immer auch eine Gemeinschaft, die Exil und Verwünschung kennt. Gesellschaftliche, intellektuelle, moralische. Sie hat Zeiten erlebt, in denen man ihr vorwarf, sie sei zu alt, zu unbeweglich, zu schuldig, zu bedrängend. Sie hat Zeiten erfahren, in denen sie in der Fremde stand – und nicht selten auch in der Fremde zur eigenen Zeit. Und dennoch ist sie weitergegangen: durch Katakomben und Konzilien, durch Klöster und Krisen, durch das helle Morgenlicht des Ostermorgens und die langen Nächte eigener geglückter bzw. gescheiterter Selbstprüfung.

Wenn man die Geschichte der wandernden Kirche betrachtet, erkennt man eine Gestalt, die weder altert noch jung wird. In der Sprache alter Symbolik könnte man sagen: Die Kirche appliziert sich sonntäglich eine sonderbare Salbe – jene Salbe, die von Anfang an bereits auf ihr lag, seit der Auferstandene sie anhauchte und ihr den Geist der Wahrheit zusprach. Diese Salbe ist aus Wort und Sakrament bereitet, aus dem geheimnisvollen Gnadenstrom, der sie innerlich nun durchwallt. Sie braucht diese Salbe ohne Unterlass. Aus ihr empfängt sie ihre Kraft, die Zeiten zu durchstehen, selbst wenn die Zeiten an ihr zehrt.

Die Kirche hat als wandernde Institution also das Bild des verwunschenen Ahasver vor Augen. Dieses Bild ist für sie Mahnung und Trost zugleich. Mahnung, weil sie weiß, dass sie, wie Ahasver, die Begegnung mit Christus nicht fliehen kann; Trost, weil sie weiß, dass diese Begegnung nicht Gericht sein wird, sondern immer Gnade war. Denn Ahasver ging, geht und muss gehen, weil er Christus verspottet haben soll. Die Kirche jedoch geht, weil Christus sie gesendet hat. So die Lesart …

Die Kirche erfährt allerdings nicht selten ihr Wandern als Last oder sogar als Fluch. Sie geht durch Zeiten, in denen sie schwach erscheint, angefochten, belächelt, verkannt. Zeiten, in denen ihre Gemeinden nicht nur schrumpfen, sondern ganz verschwinden. Ihre Stimme wird leiser und verstummt. Ihre Wege werden ungeheuerlich und ungangbar. Zeiten, in denen die Welt sie wie eine Figur aus einer fernen Epoche behandelt, deren Gegenwart unverständlich, obsolet und lästig geworden ist. Und dennoch bleibt sie: Sie predigt weiter, Sonntag für Sonntag, Jahr für Jahr, Jahrhundert für Jahrhundert.

Sie ist eine Wanderin ohne Ende, weil ihr Ziel jenseits von allem liegt, was man verstehen kann. Und gerade das ist die Weise, in der die Treue der Kirche und die Treue zu ihr sichtbar wird. Denn ihre Dauer ist nicht Starrheit, sondern Liebe zu Christus; nicht Beharren aus Angst, sondern Ausharren als Berufung. Ihr Weg ist ein Weg des Gehorsams: ein Weitergehen, solange und weil der Herr sie sendet.

Wenn man also in der Kirche die Figur des Ahasver wiedererkennt, dann nicht, weil sie verflucht wäre, sondern weil sie das Geheimnis teilt, das in der Zeit aufbricht, wenn der Mensch – oder eine ganze Gemeinschaft – Christus begegnet, und ihn nicht wegschickt. Die Kirche ist die Wanderschaft des Evangeliums durch die Geschichte.

Und am Ende, wenn sie ihren Weg vollendet, dann wird die Kirche nicht wie Ahasver in der alles tilgenden Nacht verschwinden, sondern wie die Braut vor ihren Herrn treten, der ihr rastloses Wandern verwandelt haben wird in Heimkehr.

Autor:

Matthias Schollmeyer

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