Novenber 2022 (Teil 1)
zum Allerheiligentag am 1. November

Wiener Heiltumsbuch 1502 (gemeinfreies Bild der WIKIPEDIA)

Kurfürst Friedrich der Weise hatte im Laufe seines Lebens jede Menge Reliquien gesammelt. Dann war irgendwann auch ein Büchlein gedruckt worden, in dem alle diese Dinge beschrieben und abgebildet waren. Und so kamen die Menschen - jahrzehntelang aus Stadt und Land. Der Reliquien und des Heiltumbüchleins wegen. Endlich ist nun auch Kurt Globnich gekommen. In seinem 90. Lebensjahr wagt er für den Allerheiligentag  die Reise nach Wittenberg. Irgendwas fehlte nämlich noch ... Zwar hatte der alte Mann schon viel erlebt, aber alles das wollte sich  bisher nicht zur Erfahrung ordnen … 

Allerheiligen zu Wittenberg - auch Schlosskirche genannt. Es riecht nach Kerzen und irgendwas. Von den Säulen herab staunen die fortschrittlichsten Katholiken, welche das 16. Jahrhundert aufbot. Würdig blicken sie als Steinfiguren in das Kirchenschiff hinab, von wo aus die Leute zu ihnen empor staunen. Auch Kurt Globnich. Aus seinem Rollstuhl.

Eine Frau kommt auf ihn zu.
„Kann ich Ihnen helfen?“

Globnich verlangt das Büchlein.

Die Frau: „Welches Büchlein?“  

Globnich: „Um dessentwillen alle kommen“.

Sie erschrocken: „Dass kann ich ihnen nicht reichen! Es liegt vorn auf dem Altar für den Gottesdienst.“

Globnich: „Jetzt ist Gottesdienst!“

Die Frau weigert sich.

Globnich: „Wenn Sie es nicht herbringen, mach ich Geschrei!“
Er reckt sich in seinem Rollstuhl so gut es eben noch geht:
„Ich bin am Todestag Friedrich des Weisen geboren. Nur reichlich 400 Jahre später am 5.5.1932 - und will jetzt sein Büchlein berühren. In meinem hohen Alter reiste ich her. Um des Buches willen. Werden Sie erst mal 90. Wie alt sind sie denn überhaupt?“

Die Frau antwortet verdattert „Fünfundsechzig.“ -

„Her mit dem Büchlein, junges Ding!“  flüstert Globnich mit deutlichem Nachdruck.

Die Frau berät sich mit der Küsterin. Dann bringt sie das auf dem Altar aufgeschlagene Buch zu Globnich. Kein Büchlein, sondern ein richtig schweres Buch. Legt es ihm auf die Knie.

Globnich liest laut: „Jegliches Ding hat seine Zeit.
Er murmelt: „Das kenne ich. Das haben die Puhdys gesungen.“
Blättert weiter. Und liest. Und blättert. Die Frau wird nervös, Touristen haben bereits einen Kreis um den Rollstuhl gebildet. Um Globnich, den Leser, und sie, die die Verantwortung trägt.

Die Frau: „Geben Sie´s zurück. Sie hatten Ihren Willen.

Globnich nickt. „Nur das noch: ‚Und er wird Tränen abwischen von ihren Augen, der Tod wird nicht mehr sein, kein Leid, kein Geschrei.‘“  Globnich nickt weiter. "Sehen Sie, junge Frau, nun habe ich es berührt! So war ich Kurt Globnich heiße - man muss im Leben das Wesentliche berührt haben. Dann kann man auch getrost sterben.“

Autor:

Matthias Schollmeyer

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