in der Helle
Neues von Leberecht Gottlieb (28)

Arnold Böcklin - die Todteninsel ...

Leberecht arbeitet emsig an der Ausschmückung der Hadesfahrt seines ehemaligen Staatsbürgerkundelehrers Kurt Globnich. Die Arbeit geht ihm rasch von der Hand. Folgende Begebenheit findet über die Finger des Geistlichen und die Tasten seines Notebooks ihren Weg in die lesbare Wirklichkeit ...

Plötzlich also fühlt Globnich sich am linken Fuß festgehalten. Jemand zieht ihn aus den Turbulenzen heraus und stellt ihn auf festen Grund. Und – es ist nicht nur eine Person, von der er aus den Aerosolen der Lethe gerettet wird, sondern es sind mehrere.
Diese unbekannten Wesen bestürmen Globnich mit allerlei Fragen. Dabei reden sie auf altertümelnde Weise. Sie sagen etwa: „Von wannen kommt Ihr, Fremder - und wer ist Euer Erzeuger.“ Dabei lächeln sie ausgesprochen freundlich. Ihr und Euch? Globnich schaut sich um, ob da außer ihm noch jemand anderes wäre. Und es scheint ihm auf einmal, als ob aus seinem Körper heraus noch andere Globniche hervor schauten. Er sieht sich selbst als Kind, als jungen Mann, als Greis. Er selbst als Frau, als Hund - sogar als Dromedar. Das ist sehr seltsam. Dann aber ist das sonderbare Phänomen auch schon wieder vorüber. Globnich dämmert, dass es an seinem neuen Aufenthaltsort irgendwie anders und sehr edel zuging. Nicht so wie in Pottsitz. Eher wie in dem monumentalen Film - Il Gattopardo aus dem Jahr 1963 von Luchino Visconti, gedreht nach dem Roman von Giuseppe Tomasi di Lampedusa. Diesen Streifen hatte er mehrere Male zusammen mit Petra sich angeschaut - und sie hatten dabei auf dem Sofa gesessen, Rosenthaler Kadarka getrunken und Salzstangen gegessen. In seine zurückkehrende Erinnerung sagte Globnich bedächtig das Folgendes, wobei er begriff, dass er nicht begriff, von woher ihm diese Worte zuflogen als sich seine Lippen zu bewegen begannen:

„Ihr guten Leut, ehrbare Wächter

mir unbekannten Schattenlandes.

Mein Name lautet einfach Kurt.

Und Joseph Meinrad

rief ich den Vater,

weil der mich zeugte.

Ein Apotheker war’s in Tiefengrün.

Viel Leute ehrten damals ihn.

Der Kräuter kundig und heilender Stoffe.

Längst weilt der Gute, so wie ich

nicht unter Lebenden uns mehr!“



Da lachen die Fremden über das Wort „uns.“ Sie freuen sich daran, dass Globnich von ihnen als „Wächter“ sprechen wollte, und strecken ihm ihre weißgewaschenen Hände entgegen. Dabei sagten sie:

„Siehe, wir grüßen dich heute.

Das ist das treffliche Land aller Schatten.

Aides ist unser Gebieter.

Komm doch und setzte den Fuß
auf den Stein hier.
Schwing dich tapfer,

so landest du an.

Dann zeigen wir dir unsere Welten.

Auch sollst du wie unsereins Flügel erhalten.

Vorerst nur kleine.

Brauchst du sie richtig,

dann wachsen sie ein,

werden auch größer und können dich tragen,

die Last deines Schattens nach oben befördernd.

So läuterst du dich und absolvierst deine Zeit.“

Globnich trat auf irgendeinen von den Unbekannten näher bezeichneten schwarzen Stein, schwang sich zu den Wächtern hinüber und nahm die Flügel in Empfang. Sie waren schwarz wie der Stein, auf den er getreten, schwarz mit dunkelblauen Glitzerpünktchen - Gneis. Hübsch. Die Wächter schnallten die Flügelchen sorgsam auf dem Rücken Globnichs fest und forderten ihn auf, dieselben jetzt hin und her zu bewegen - was zuerst nicht recht glücken wollte. Aber, für den Anfang würde es genügen, meinte einer, der ihr Anführer zu sein schien. Dann reichen sie Globnich die Hand und stimmten wieder einen ihrer Hymnen an, dessen Text unerheblich ist, so dass wir ihn hier nicht wiedergeben müssen. Es handelte sich um Lobpreisworte, um eine lange Litanei von Namen, mit Hilfe derer sie dem Unsichtbaren gegenüber - also Aides - Ehrerbietung zollten und seine Wesensart als unbeschreiblich beschrieben.

Auf diese Weise stetig singend führten sie Globnich immer weiter hinaus in eine sehr sonderbare Welt, die wohl die Hölle sein sollte, aber gar nicht derart war, wie Kaplan Wowobrutl sonntags in Tiefengrün davon erzählt hatte. Die Landschaft glich jener, wie man sie aus Reisekatalogen Neuseelands kannte. Alles mutete sehr, sehr paradiesisch an. Doch Globnich wusste, dass das nicht das Paradies sein konnte. Denn er war nicht glücklich, sondern traurig. Zwar hatte er keine Angst. Aber eine schmerzliche Sehnsucht nach etwas, das es wohl gar nicht gab, hielt ihn fest im Griff. Nein, dieser Ort hier, an dem er so etwas wie einen persönlichen Advent „feiern“ durfte und dabei irgendeine sonderbare Art von Errettung aus Tod und Vergessen ahnte, dieser Ort war etwas anderes als das Paradies. Aber war auch nicht die Hölle Wowobrutls.

Globnich und seine freundlichen Wächter wandern nun geraume Zeit durch eine sonderbare Landschaft. Es ginge - wenn auch auf einigen Umwegen - so doch direkt zum Thronsaal des Aides. So haben die Begleiter Globnich es ausgedrückt. Kurt Globnich ist gespannt. Dass es das nun alles wirklich doch geben sollte, von dem er immer gemeint, es wäre Priesterbetrug gewesen. Allen seinen FDJ-lern hat er es genauso auch erzählt. Nun war es doch kein Priesterbetrug. Soll er sich schämen? Nein, - wenn auch Leberecht und alle Gottliebs dieser Welt Recht gehabt haben - Globnich schämt sich kein bisschen. Nein, nein - er ist durch mit der Erde, durch mit der Partei und dem ganzen Kampfgruppenkram. Hier unten an diesem Platze passierte offenbar etwas fundamental Neues. Etwas Verkehrtes, das bekehrt - Verkehrung als Bekehrung.

Körperlich fühlt sich Globnich gut an. Ihm tut nichts mehr weh. Kein bisschen. Nur diese Traurigkeit - die ist bitter … Sonderbar. „Juhu“ ruft er plötzlich ausgelassen – was, ohne dass er es weiß, eine mit Ablaut versehene Lobpreisung des Judengottes Jahu gewesen ist. Globnich hat noch nicht den Hebräischunterricht genossen, den Isaak Luria hier unten persönlich anbietet. Wir werden seine Lektionen alle noch hautnah miterleben. Und - das sei an dieser Stelle bereits vorausgeschickt und verraten: Die Buchstaben werden bei Aides nicht auf Papier geschrieben, sondern direkt auf die Gliedmaßen der Lernenden. Jedoch muss der Leser keine Angst haben vor dem Zeichner aus Kafkas Strafkolonie. Denn hier unten werden die Buchstaben  mit Aiternol auf die angewärmte Haut appliziert. Das tut nicht weh, sondern es ist ein sehr, sehr intensives und angenehmes Gefühl. Vergleichbar der manuellen Therapie gut ausgebildeter Physiotherapeutinnen aus Thailand.

Tatsächlich! Die Landschaft, durch die man mit Globnich schreitet, ist einigermaßen irgendwie bedrückend unwirklich. Wie soll man das beschreiben? Leberecht Gottlieb streicht den letzten Satz aus und holt ihn sich wieder auf den Rechner zurück. “Irgendwie auch bedrückend unwirklich“ nicht wahr? Ja, ja, bzw. nein, nein – das muss schon so stehen bleiben. Genau diese Schwebe zwischen Wohllust und Angst ist gemeint. Nicht Wolllust – Wohllust. Und eigentlich nicht Angst – sondern eher die völlig desorientierte Erwartung auf Erscheinung eines absolut Unverständlichen. Das sogenannte Depersonalisationserlebnis soll es ja auch als Déjà-vu geben. Aber um Gottes Willen! Wie theoretisch das alles klang. Leberecht lässt es jedoch erst einmal so stehen und fährt mit seiner Beschreibung fort. Und weiß nicht, dass dadurch, dass er es schreibt, Globnich in der Helle genauso das erleben muss - bzw. darf, was er da - wie von einer fremden Macht getrieben - schreibt.

Der Schnee liegt etwa fünfzig Zentimeter hoch und es ist Advent. Zugleich zeigt das Thermometer einen Gradschein von dreiundzwanzig auf der Celsiusskala. Rosen blühen, denn es soll ja jenes besondere Reis - die Rose aus dem Stamm Jesse - recht bald hervorschießend aus der alten Wurzel aufspringen. Eiszapfen und Eiszäpfchen erklingen äolisch im Winde. Pentatonische Harmonieklaster. Die durchsichtigen Klangstäbe aus gefrorenem Wasser hängen tief herab von den Dächern irgendwelcher Treibhäuser, in denen Menschen aller Altersklassen sitzen und sich mit Gesellschaftsspielen die Zeit ausfüllen, an vergoldeten Staffeleien stehen, um Ikonen zu schreiben - oder auch miteinander den Tango-Tanz üben. Welch schöne andere Welt.

Globnich hat auf einmal Hunger. Ja, – man hat Hunger im Aides. Er blickt seine Wächter an und zeigt auf seinen Bauch. Sofort machen sie Rast. Man sitzt an einem Teich und isst altes übrig gebliebenes Abendmahlsbrot. Die großen Zelebrationshostien aus Tiefengrün im Sudentenland. Die liegen hier auf violetten Papierservietten einfach so herum. Und munden auch einigermaßen. Den Rest bekommen die Frösche des Teiches. Einer von ihnen hat ein kleines Krönchen auf und sagt:

„Dank sei euch gesungen

euch Menschen – aus unserem Munde.

Lecker atzten die Brocken

vom Tisch der wandernden Sucher

uns, die wir tagen im Schilfrohr des Teiches.“

Globnich staunt. Da erzählen ihm seine Wächter, dass diese Frösche sprechen können, weil sie - Frosch für Frosch - ursprünglich selber Worte sind. Ehemalige Worte, die von Menschen gesprochen worden und im Teich aller Worte gelandet sind. Oder nicht gesprochen wurden und dann aus diesem Grund hier am Ufer des Teiches eine vorübergehende Heimat gefunden haben. Und überhaupt sei fast alles hier unten Sprache. Auch sie selbst, die Wächter, – und er, Globnich.“ Globnich fragt: „Ach, wir sind Sprache?“ Die Wächter:

„Gewiss, wir sind Wort!

Alles, was jemals oben gesprochen,

oder auch nicht verlautbart gewesen,

wird nun hier unten gehütet.

Wort, Stimme, Gesang  –
 sie werden zu Taten.

Werden zu Werken, sichtbar dem Auge

und hörbar dem Ohr.

Betastbar den Händen,

erlebbar für forschende Seelen.“

Globnich hört erstaunt zu, will im Augenblick nichts hinterfragen. Wahrheit ist wahrscheinlich doch etwas anderes als das, was er immer dachte, dass es die Wahrheit sei und er es deshalb seinen Schülern erzählte. Die Übereinstimmung von res extensa und res cogitans im Sinne einer richtigen und unverzerrten Widerspiegelung der materiellen Dinge im materiellen Gehirn. Alles Quatsch. Zumindest wahrscheinlich doch noch ganz anders. Leberecht Gottlieb und die Idealisten in der Kirche hatten wohl mit ihrer anderen Ideologie nicht ganz falsch gelegen. Kränkungsgefühle bei Globnich? Nein, – nicht im Ansatz. „Juhu!“

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Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer
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