die Zerstörerin der Werte
Leberecht Gottlieb (Teil 134)

134. Kapitel, in dem wir den Schriftsteller Daniel Abramowich kennenlernen und seine Kurzgeschichte von der Magna Destructrix Virtutum, - der Großen Wertezerstörerin.

Nach ein paar Wochen hatte  sich Leberecht einigermaßen "gut" auf Workuta eingelebt. Ob man in Bezug auf russische Straflager von "gut eingelebt haben können" überhaupt sprechen darf, ist dabei eine andere Frage. Jedenfalls fand der greise Pfarrer hier sogar ein paar Freunde. Auch einen ganz besonderen jungen Mann mit Namen Daniel Abramovich. Dieser war fromm, orthodoxer Christ und hier "zu Gast", weil er auf der Wandzeitung seiner Universität einen umstrittenen Aufsatz platziert hatte, in welchem einige Dozentinnen für Gesellschaftswissenschaften recht ironisch beschrieben worden waren. Auf diesen seinen kleinen Artikel war Daniel Abramovich sehr stolz und auch auf das Bild, das er dazu gemalt hatte - und was wir oben betrachten könnten, aber wir zeigen es aus reiner Vorsicht lieber nicht. Dieses Bild ist nämlich gefährlich gut und damit gefährliches Gut! Ja -  das Malen, das beherrschte der Häftling Daniel ebenfalls ausgezeichnet. Seinen ersten schriftstellerischen Versuch hatte er mit in die Verbannung nach Workuta geschmuggelt. Getarnt in einer halben Rolle Toilettenpapier. Und nun zeigte er Leberecht Gottlieb das Opus, das ihn hierher brachte, als sie am nächsten Tag wieder hinunter in das Blei fuhren.

Leberecht las beim Schein der Grubenlampe den Text, begutachtete das Bildnis - und alles Blei ringsum schimmerte dabei anerkennend grau. Nun nickte auch der alte Pastor anerkennend. Besser hätte er selber es nicht machen können. Das Ganze stellte so etwas wie ein ironisches Lehrstück auf die Zustände  undemokratischer Staaten dar, wie etwa die ehemalige DDR oder Nordkorea es waren, bzw. sind. Auch die Sowjetunion und anderes wäre zu nennen. Hier ist der Text von Daniel Abramowich:

„Sie kam durch die Drehtür. Kein Knall. Kein Gong. Kein Applaus. Niemand wusste, wer sie geschickt hatte. Manche dachten, sie sei schon immer da gewesen. Andere sagten, sie habe studiert. Dann setzte sie sich auf den Abgeordnetenstuhl, der am höchsten stand. Ohne Wahl. Ohne Namen. Ohne Partei. Zuerst sprach sie über Freiheit. Dann über Deutungshoheit. Schließlich über Autonomie. Die Zuhörer nickten. Manche zogen die Stirn kraus, aber die meisten nickten. Das waren doch alles so warme Worte? Autonomie. Und so schön biegsam, wie Silberdraht. Sie bog es zur Schlinge …

Sie sagte, Werte seien „kulturell kodierte Konventionen“. Diese Wörter schwebten im Saal wie duftende, feuchte Wäsche. Dann sagte sie, Wahrheit sei „eine Verhandlung“. Die Sitzreihen wurden still. Einer fragte: „Und was ist dann ein Mensch?“ Sie lächelte und sagte nichts. Das Protokoll verzeichnete: „Stille - als Zustimmung.“ Ein Abgeordneter schlug die Verfassung auf. Sie blies kräftig dagegen … Die Seiten flatterten, dann rissen sie aus wie Blätter im Herbst. Artikel 1 landete neben dem Heizkörper. Niemand hob ihn auf.

Nach der Relativierung der Werte kam ihre Zersetzung. Sie - wer war sie überhaupt? - ließ Urteile rückwirkend verformen, Begriffe ausradieren, Traditionen umetikettieren. „Tugend ist Tyrannei“, meinte sie. Dann: „Jede Pflicht ist nur eine raffinierte Maskerade des Hasses.“ Sie sprach nicht unangenehm und leise, aber doch klang ihre Stimme wie ein Brenner. Wer zuhörte, schwieg. Und wer schwieg, wurde Teil der Bewegung, die von ihr angeführt wurde.

Einige Richter im Zuschauerraum lächelten ahnend. Und ihre Roben dampften schon ein wenig. Dann kam das Fressen. Zuerst verschlang sie den Hauptausschuss. Dann den Ethikrat. Dann die Kirchenbeauftragten. Sie fraß mit spitzen Fingern, sauber und höflich. Nur ein Stück von irgendeiner Brille blieb auf dem Rednerpult liegen. Aus Titan.

Sie wischte sich den Mund und sagte: „Fresst euch selbst. Ich habe nichts gemacht - euch nur gezeigt, wie es geht.“ Sie wuchs, als sie sprach. Ihre Schultern stießen bereits gegen das Glasdach. Sie spannte die Haut, faltete sie aus wie die Flügel der Engel Beelzebubs an den barocken Seitenemporen aufgegebener Dorfkirchen - und hob ab. Der Himmel war nun offen. Von unten sah man deshalb über dem Saal der Volksversammlung ihre Triebwerke strotzen. Dann war sie fort.

Aber auf dem Planeten der Affen erwartete man sie schon. Sie war da seit langem bekannt. Man nannte sie ehrfürchtig Euer Ehren Magna Mater Destructrix und Frau Vorsitzende. Sie war direkt auf der Großen Statue der entthronten Gottheit gelandet und küsste jetzt deren Stirn. Die Affen salutierten.

Im großen Saal der Versammlung des Volkes aber saß und stand nun niemand mehr. Nur die Blumen in den Fensterbänken lebten noch. Sie hatten alles gesehen. Langsam ließen sie ihre Blütenblätter fallen, eins nach dem anderen. Nicht aus Alter. Aus Solidarität. Sie enthaupteten sich selbst. Aus Anstand.

Manche sagten später, diese Person habe irgendwie Ähnlichkeit gehabt mit einer Frau. Doch sie hieß anders,  war aber dieselbe. Und sie sagten ängstlich untereinander: ‚Wer ist denn diese, denn auch Zahl und Buchstabe gehorchen ihr gern?‘”

Leberecht schlug dem jungen Mann Daniel anerkennend auf die Schulter. Und dann machten sie sich am Blei zu schaffen …

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mehr von Leberechts Abenteuern hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

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