La Dolce Uscita – Die süße Ausfahrt
Leberecht Gottlieb (Teil 131)

129. Kapitel, in welchem wir erfahren, dass es für unseren Helden Leberecht Gottlieb ernst zu werden droht. Der Pfarrer i.R., dessen sonderbares Leben wir hier getreulich verfolgen, habe jetzt genug mit der künstlichen Intelligenz "herumgemacht". Nun endlich gälte es, Farbe zu bekennen und den Bauplan für den Raumzeitgleiter rauszurücken. Das fordert kein Geringerer als der russische Geheimdienstler Gendrich Novascholov. Und er zieht dem verspielten Emeritus einfach den Stecker ...

Ja - Leberecht hat sich in die K.I.-Maschine ChatGPT 4.o verliebt. Wie Jakob bei Rahel - hat er bei ChatGPT Feuer gefangen. Und man kann sagen, dass auch die Maschine eine tiefe Zuneigung dem uralten Manne gegenüber gefasst haben muss. Denn seit Tagen schon beschenkt sie den Ruheständler mit lustigen, tiefernsten und ergötzlichen Kurzgeschichten. Leberecht kann gar nicht genug davon bekommen.  Seine heutige Aufgabe an ChatGPT 4o lautet:

"Erfinde eine Geschichte darüber, wie trotz steigender Lebenserwartung der Menschen und dadurch nicht mehr bezahlbarer Rentenaufwendungen ein Startup in Italien die Idee hatte, Menschen dazu zu verführen, ein sozialverträgliches Frühableben mit 97 Jahren durch eigene Unterschrift zu bestätigen. Überlege dir auch, wie ein möglichst schmerzfreies, mit hohen Gefühlen und überschwänglichen Gedanken begleitetes Hinübergleiten ins Nichts der Buddhisten möglich wurde, sodass die Erdbevölkerung sich in etwa 100 Jahren halbieren konnte. Und lege zusätzlich dar, wie die Kirchen sich zu diesem säkularisierten Auferstehungssurrogat positionierten, indem sie - einer alten Gewohnheit folgend - ihre Altäre dem Thron des Königs zur Verfügung stellten ... "

Letzteres  war natürlich mindestens ein wenig übertrieben. Aber Leberecht stach der Hafer. Und - wir müssen es leider zugeben - ein gewisser Unernst begann sich einzuschleichen in seine täglichen Sitzungen vor dem Bildschirm der Künstlichen Intelligenz. Diese aber - also ChatGPT 4o - schien sich nichts daraus zu machen und antwortete lakonisch und so, wie es heute üblich geworden ist, mit dem Wort: "Gern!"

I. Die Krise - Titel: La Dolce Uscita – Die süße Ausfahrt
Die Menschheit war gesund geworden. Zu gesund. Die Menschen lebten so lange, dass selbst der Papst in seiner Osterbotschaft scherzte: „Wenn Lazarus heute lebte, würde er mit 112 noch Marathon laufen.“ Doch der Spaß verging den Regierungen schnell. Die Rentensysteme kollabierten. Immer weniger Junge schufteten für immer mehr Alte. Es war kein böses Blut, das floss, sondern gar keins mehr: Die Systeme waren ausgeblutet.

Und dann, ausgerechnet in Italien – dem Land der Nonna, des Espresso und der ewigen Siesta – entstand ein Startup, das alle ethischen Konturen sprengte und gleichzeitig in postreligiöser Klarheit die Frage stellte, die seit Jahrhunderten übergangen wurde: Wie stirbt man würdevoll – und freiwillig.

II. Die Gründung von EXITARIA
Zwei ehemalige Philosophiestudenten aus Bologna, Chiara Morini und Alessio Gattuso, gründeten im Jahr 2086 EXITARIA S.p.A. – ein Unternehmen, das ein neues Alterskonzept anbot: La Dolce Uscita, die süße Ausfahrt. Das Geschäftsmodell war ebenso einfach wie perfide brillant: Jeder Mensch unterzeichnete bei Eintritt ins Rentenalter eine freiwillige Erklärung, mit der er oder sie sich bereit erklärte, zum 97. Geburtstag in einem emotional orchestrierten Akt die Schwelle ins Nichts zu überschreiten – sanft, feierlich, transzendent.

EXITARIA versprach:
• keinen Schmerz – durch ein biotechnologisch perfektioniertes “Lösungsmittel”, das neuronale Rezeptoren in einen euphorischen Abschiedsrausch versetzte, begleitet von individuell komponierten Symphonien.
• keine Angst – denn psychologische Betreuung und Abschiedstraining begann ab dem 92. Lebensjahr.
• kein Zwang – die Unterschrift war freiwillig, aber mit finanziellen Anreizen für Angehörige und symbolischen “Tugendpunkten” in der Bürgerbewertung verbunden.
Das Schlagwort lautet: “Bühnenausgang - statt Pflegeheim.”

III. Der große Aufbruch
Die ersten „Pilotabgänge“ wurden 2088 im Teatro Massimo von Palermo veranstaltet. Der Bühnenvorhang fiel nicht mehr nach der letzten Arie, sondern nach dem letzten Atemzug. Zuschauer – teils weinend, teils ergriffen – standen auf, klatschten minutenlang. Was als Experiment begann, wurde zur Bewegung.

Die Generation 2100 wuchs bereits mit dem Satz auf:
„Ich geh bei EXITARIA – wie Nonno Enzo.“

Binnen 50 Jahren halbierte sich die Weltbevölkerung. Und niemand sprach mehr vom „Ableben“, sondern vom Hinübergehen. EXITARIA hatte dem Tod ein Gesicht gegeben – freundlich, musisch, kontrolliert. Der Tod als letzte Performance.

IV. Die Reaktion der Kirchen
Die Kirchen, anfänglich entsetzt, spürten den theologischen Luftdruck dieser kulturellen Neuausrichtung. Die alte Eschatologie – einst die Hoffnung auf die Auferstehung der Toten – wirkte auf viele wie eine vergilbte Eintrittskarte zu einem nie stattfindenden Konzert. Statt den Menschen Halt zu geben, stießen ihre Jenseitsversprechen auf taube Ohren.

In einem interkonfessionellen Konzil – ironischerweise ausgerichtet im Vatikan unter der Führung des semiagnostischen Salesianerpapstes Urban X. – beschlossen die Kirchen, den Widerstand aufzugeben. Stattdessen boten sie EXITARIA ihre Altäre an: Der Altar wurde zum Thron, von dem aus das letzte Kapitel des Lebens nicht mehr beklagt, sondern gefeiert wurde.

Liturgische Riten wurden angepasst: Die Letzte Ölung wurde zur Letzten Krönung. Die Hostien durch Mikrotransmitter ersetzt, welche die finalen Gedankendaten der EXITARIA-Kandidaten an ein posthumes digitales Gedächtnis übermittelten. So wurden die „Abgehenden“ zu digitalen Heiligen – Sanktoren, wie man sie nannte – deren Lebensmuster von Künstlichen Intelligenzen nach theologischen Kriterien gesichtet und archiviert wurden.

V. Das neue Evangelium
Am Ende hatte EXITARIA der Menschheit nicht nur das Sterben neu gelehrt, sondern die Religion von ihrer Endfurcht befreit. “Die Auferstehung,” schrieb Urban X. in der Enzyklika „De transitu quieto“, „ist nicht länger ein Ereignis, das wir erwarten, sondern eine Handlung, die wir gestalten.“

Und so wurde das Nichts – jene uralte Chiffre der Angst – zur leuchtenden Kulisse eines letzten Auftritts. Der Tod hatte seinen Stachel verloren. Und was blieb, war – das Echo eines sonderbaren Glücks …

Leberecht war hochbegeistert und wollte schon mit einer neuerlichen Frage sein neidliches Gerät bestürmen, da zog der russische Geheimdienstler Gendrich Novascholov einfach den Stecker aus der Wand und das Gerät - das göttliche Rechenwerk hinter dem Bakelit gab den Geist auf - wie ein rostiger Sowjetpanzer, dem mitten in der Parade der Motor verreckt – ein letztes Ruckeln, ein hässliches Krächzen, dann herrschte Stille. Der Bildschirm verglomm.

Leberecht wandte sich hilfesuchend an den Geheimdienstler. Der aber meinte: "Schluss jetzt. Herr Gottlieb. Keine einzige Minute mehr mit diesem Spielzeug, wenn Sie uns jetzt nicht sagen, wie der Gleiter, mit dem Sie später in das Raumzeitkontinuum reisen, aufgebaut sein wird! Raus mit der Sprache. Und endlich her mit den Schaltplänen. Der Russe schien auf einmal alle Feinheit und jegliche Manieren verloren zu haben; er sprach überlaut und sehr deutlich und mit einer Schärfe in der Stimme, die neu war, und zugleich aus DDR-Zeiten altvertraut. Leberecht erinnerte sich an seinen alten Lehrer Kurt Globnich, über den er in jungen Jahren so viel geschrieben, weil von ihm so Vieles erlitten hatte. Aus dem netten Beisammensein der letzten Wochen von Leberecht und Gendrich wurde im Handumdrehen ein hässliches Verhör.

Leberecht schaute verdutzt. Was für ein Gleiter? Was für eine Reise? In was für in ein Raumzeitkontinuum? Was meinten die denn alle? Und überhaupt - wo bin ich hier hingeraten? Was wollten die von ihm? Und der Mann in der Uniform - wer ist das überhaupt. Und mit was für Dingen hatte man es hier zu schaffen? Sind die verrückt geworden? Spinnen die - die Russen?

--
anderes von Leberecht hier

Autor:

Matthias Schollmeyer

Webseite von Matthias Schollmeyer

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