EWIGKEIT
Lange Zeit

Caspar David Friedrich - ziehende Wolken (gemeinfreies Bild WIKI)
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„Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin.“ Joseph von Eichendorff hat diesen Satz geprägt - Spätromantik. Das klingt wie eine ferne Glocke, die irgendwo im Nebel läutet – nicht laut genug, um uns den Weg zu weisen, aber eindringlich genug, um uns daran zu erinnern, dass es ihn gibt: den Heimweg. „Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin.“ – Welch erschütternde Sanftheit in dieser Klage. Sie enthält alles: die Verlorenheit des modernen Menschen, den metaphysischen Hunger des romantischen Wanderers, die Ahnung einer Welt jenseits der Sichtbarkeit. Ewigkeit – das ist kein Kalenderbegriff. Es ist nicht die Summe aller Tage, sondern die Aufhebung der Tage. Ewigkeit ist der Augenblick, in dem das Zählen aufhört. Es gibt ein Lied (EG 507), das lautet folgendermaßen

„Ewigkeit,
lange Zeit.
Wie viel zählst du, Stündlein?
Ohne Zahl,
so viel mal,
sei gelobt, der ewige Gott."

So hat es ein anonymer Dichter gewendet; und das ist die eigentliche Kunst - die Beunruhigung in ein Lob zu verwandeln. Die Entstehung des Liedes  wird auf Dresden gemünzt. Melodisch und sprachlich trägt das Lied deutliche Spuren des Volksliedtons der Erweckungszeit: schlicht, kreisend, fast kindlich – und gerade dadurch tief. Es ist in seinen weiteren Strophen ein theologisch dichtes Gedicht über das Erschrecken und zugleich die Trostkraft des Gedankens an die Ewigkeit.  Die Unendlichkeit des Zählens, also auch die Bedrängnis durch das Gewahrwerden eines endlosen Zeitbewusstseins wird durch die Aufzählung des Unzählbaren in eine Litanei des Lobes umgeprägt – eine Veränderung des Grauens in Richtung Anbetung. Die Erfahrung des endlosen, unbegreiflichen Zeitstroms wird nicht beklagt, sondern in Lob transformiert – der Mensch lernt, das Unzählbare zu segnen, statt daran zu verzweifeln.Denn wer einmal versucht hat, sich Ewigkeit vorzustellen, der weiß, wie beängstigend dieses Wort werden kann. Keine Grenze, kein Ende, kein Halt. Die Seele, die gewohnt ist, an den Rändern entlangzugehen, verliert die Orientierung. Und doch, genau in diesem Verlust, beginnt die Anbetung. Eichendorff, Novalis, Brentano – sie alle ahnten, dass man das Ewige nicht begreifen kann, ohne die Nacht zu durchschreiten. Ihre Religion war kein vernünftiges System, sondern ein Sehnen, ein Sich-Öffnen. Der Glaube als unstillbare Bewegung des Herzens. Und in dieser Bewegung liegt die wahre Geborgenheit. Nicht im Besitz Gottes, sondern in der Hinneigung zu ihm. Wir müssen das Lob also nicht nach dem Verstehen sprechen, sondern mitten in der Verwirrung. Das ist das eigentliche Gebet: eine Zustimmung zum Unverständlichen. Das „Ja“ zum Rätsel. Der Glaube, dass der Sinn uns trägt, auch wenn wir ihn nicht fassen.

Der Mensch ist ein „aufrecht spazierendes Sehnsuchtswesen“, ein Tier, das den Himmel ahnt, aber auf der Erde wohnt. Wir sind Akrobaten des Dazwischen – zwischen Geburt und Tod, zwischen Tag und Nacht, zwischen Gewissheit und Staunen. Unsere Gebete sind tastende Bewegungen im Zwischenraum. Ewigkeitssonntag – das klingt nach Stein, nach Friedhof, nach letzter Stunde. Aber vielleicht ist dieser Tag der zärtlichste im Kirchenjahr. Denn er spricht nicht vom Ende, sondern vom Ziel. Von der Vollendung des Weges, den wir im Nebel begonnen haben. Man könnte sagen: Das Ewige ist das Zuhause, das uns nie gehörte und doch auf uns wartet. Es ist die Gegenwart, in der nichts mehr vergeht. Wenn die Heiligen in der Offenbarung ihr „Heilig, heilig, heilig“ singen, dann ist das kein endloses Wiederholen, sondern das Entfallen der Zeit. In jeder Silbe ist alles enthalten.

Und wenn wir nun besonders der Verstorbenen gedenken, dann geschieht dasselbe: Wir sprechen nicht von ihnen, als wären sie fort, sondern mit ihnen, weil sie jetzt sind, wo kein „Vorher“ und kein „Nachher“ mehr gilt. Ihr Schweigen ist nicht Abwesenheit, sondern Teilnahme an einer größeren Melodie. Eichendorffs Satz bleibt unser Spiegel: Wir sehnen uns nach Hause und wissen nicht, wohin. Aber vielleicht ist genau dieses Nichtwissen das Tor. Wer schon wüsste, wohin es gehen wird, würde sich nicht sehnen. Und wer sich nicht mehr sehnt ...

Darum, Carissimi - wenn euch die Nacht umhüllt, wenn ihr das Ziel nicht seht, dann bleibt still. Sagt nicht: „Ich verstehe nichts.“ Sagt lieber: „Ich werde verstanden worden sein.“ Denn das ist der tiefste Sinn des Gebets – nicht, dass wir Gott begreifen, sondern dass er uns umgreift. Und so möge diese unzählbare Ewigkeit, von der der Dichter singt, nicht als Drohung über uns stehen, sondern als sanftes Licht:

"Wieviel zählst du Stündlein
ohne Zahl –
so vielmal
sei gelobt der ewige Gott."

Caspar David Friedrich - ziehende Wolken (gemeinfreies Bild WIKI)
Autor:

Matthias Schollmeyer

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